ANDREA L. SABLONE 02/07/2022

Unternehmerisches Denken in Ökosystemen

Der Begriff Ökosystem gewinnt an Popularität in der Wirtschaftspresse. Wie ist er betriebswirtschaftlich zu verstehen und welche Implikationen hat er für die Unternehmensführung?

Wieso setzt sich derzeit der Wasserstoffantrieb bei LKWs besser als bei Autos durch? Im Schweizer Markt kommen wasserstoffbetriebene LKWs bei den grossen Detailhändlern zum Einsatz. Sie können die Fahrzeuge über dieselben Strecken immer wieder nutzen und jeweils am Abfahrtsort tanken lassen. Die Fahrten von PKWs sind verhältnismässig weniger regelmässig und deshalb kann das Tanken der Fahrzeuge weniger gut geplant werden. In der Tat ist das Tankstellennetz für Wasserstoff in der Schweiz kaum ausgebaut – dies nicht ohne Grund: Wer würde in den Ausbau eines Tankstellennetzes investieren, solange die Zahl der Nutzer gering bleibt? Die Autofahrer wiederum haben keinen Anreiz ein solches Fahrzeug zu erwerben, da die Auswahl an Fahrzeugen äusserst beschränkt ist und es nur eine Handvoll Tankstellen hat. Dies ist übrigens in keinem anderen Land wesentlich anders.

Auch für die Autohersteller bestehen kaum Anreize, in eine Technologie zu investieren, die im Wettbewerb mit mächtigen Konkurrenten steht, von denen der aktuell Aussichtsreichste bekanntlich der Elektroantrieb ist. Unter diesen Umständen stehen auch Wasserstoffhersteller vor dem Dilemma, ob sie abwarten sollen, bis die Nachfrage anzieht und damit vermeiden, grössere Beträge in den Sand zu setzen, oder ob sie investieren mit dem dreifachen Ziel: eine ökologische Herstellung zu realisieren, die Produktionskosten zu senken und ihre Kapazität zu erweitern, um bereit zu sein, grössere Mengen abzuliefern. Angesichts der vielschichtigen Herausforderungen wäre es für diese Unternehmungen interessant, obwohl sie für gewöhnlich im Wettbewerb stehen, Formen von Zusammenarbeit anzustreben. Genau das geschieht derzeit in Bezug auf wasserstoffbetriebene Lastwagen im Schweizer Markt. Dieser ist gross genug, um die Entwicklung auf einer Industrieskala voranzutreiben und gleichzeitig klein genug, sodass die beschriebenen Limitationen überbrückt werden können. Kein Player würde alleine das Rennen machen und alle werden vom Fortschritt profitieren, denn mit der Zusammenarbeit können die fehlenden Voraussetzungen geschaffen werden, damit wasserstoffbetriebene Fahrzeuge eine Chance erhalten.

Konzept und Funktionsweise von Ökosystemen

Das beschriebene Netzwerk aus rechtlich unabhängigen jedoch wirtschaftlich eng verbundenen und voneinander abhängigen Unternehmungen lässt sich als Ökosystem bezeichnen. Der Begriff aus der Biologie bezeichnet eine Gesamtheit an verschiedenen Organismen aus dem Pflanzen- und Tierreich sowie der unbelebten Umwelt, in der die Gesamtheit lebt. Die verschiedenen Organismen sind für ihr Gedeihen aufeinander angewiesen. Das ist aber keinesfalls mit einer idyllischen Harmonie gleichzusetzen. Das Verhältnis von Raub- und Beutetieren sowie von Pflanzen und Pflanzenfressern verbildlicht den Kampf zwischen den Spezies. Auch unter Individuen einer selben Spezies finden Kämpfe um Nahrung, Territorium und Paarungsmöglichkeiten statt. Die Parallelen mit den Wirtschaftsökosystemen sind erkennbar, auch wenn sie eine gewisse Umdeutung benötigen. Kunden, Wettbewerber, Lieferanten in verschiedenen Wertschöpfungsstufen und Hersteller von Komplementärprodukten stehen direkt oder indirekt in Beziehung zueinander und sind aufeinander angewiesen, damit der erwartete bzw. versprochene Kundennutzen zustande kommt. Sie stehen aber auch im Wettbewerb mit- und zueinander bzw. ihr Bestehen hängt davon ab, ob es ihnen gelingt, einen Teil des Gesamtnutzens in einem dynamischen Prozess für sich zu beanspruchen.

Die folgenden Funktionsweisen von wirtschaftlichen Ökosystemen sind für Führungskräfte relevant und erfordern ein gewisses Umdenken:

Koopkurrenz

Kooperation und Konkurrenz schliessen sich in Ökosystemen zwischen den Teil- nehmern gegenseitig nicht aus. Diese duale Interaktionsart kommt sogar oft vor. Dieses aufeinander angewiesen und doch miteinander im Wettbewerb sein, wird als Koopkurrenz bezeichnet. Dabei geht es um mehr als um faires Wirtschaften, das eine Bedingung eines jeden gut funktionieren- den Wirtschaftssystems ist. Es geht darum, die Voraussetzungen für die Entstehung und für den Fortbestand eines wirtschaftlichen Ökosystems zu schaffen, aufrecht- zuerhalten und weiterzuentwickeln. Dafür sind – zumindest in einer freien Markt- wirtschaft – sowohl Kooperation als auch Konkurrenz erforderlich. Konkurrenz, weil sich die Teilnehmer auch in Ökosystemen selber gegenüber anderen Teilnehmern behaupten müssen, seien diese Konkurren- ten, Hersteller von Komplementärproduk- ten oder Lieferanten. Kooperation, weil das Überleben und Gedeihen der Teilnehmer nur bedingt auf Kosten anderer Teilneh- mer geschehen kann. Das Verschwinden einzelner Teilnehmer aus dem wirtschaftlichen Ökosystem gehört zu seiner norma- len Funktionsweise. Ein Aussterben einer Gattung würde aber das Gleichgewicht im Ökosystem gefährden und womöglich sogar dessen Fortbestand. Werden beispielsweise keine Apps mehr für eine bestimmte Smart- phone-Plattform, oder keine Spiele für eine Konsole produziert, weil die Kosten dafür verhältnismässig steigen bzw. die Kunden dahinschwinden, so wird ihr ganzes Dasein in Frage gestellt.

(Erstveröffentlichung: UnternehmerZeitung 12/2021)

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