Fatih Erkut 18.09.2023

Wirtschaftsethik als notwendiger Teil der Zukunftsorientierung

Die demografische Entwicklung hat in ganz Westeuropa zu einem Arbeitskräftemangel geführt. Dies erweist sich zunehmend als Problem. Gezielte Aus-, Fort- und Weiterbildung sind eine tragende Säule möglicher Lösungsstrategien. Die Voraussetzung für eine sinnvolle und nachhaltige Umsetzung ist eine klare wirtschaftsethische Handlungsgrundlage.

Die Welt befindet sich in einer Phase des Übergangs. Begriffe wie «Digitale Revolution», «Generationswechsel» und «Klimawandel» zeugen von Veränderungen. Ihre andauernde und sich steigernde Präsenz in den Medien und den von ihnen getragenen öffentlichen Diskursen ist ein Gradmesser für die ihnen beigemessene Bedeutung. Kern der Debatten ist der Umgang mit Ressourcen aller Art: materielle wie zur industriellen Produktion benötigte Rohstoffe, immaterielle wie die Kapazitäten des menschlichen Geistes. Dabei geht es nicht nur um die Fragen, wofür, wo, wann und wie sie eingesetzt werden sollen, sondern zunehmend um die sich daraus ergebenden Folgen.

Ethik rückt in den Fokus

Dass diese Diskussionen in der Bevölkerung angekommen sind, wird deutlich an den Stellen, wo sie bewusst, organisiert und laut in die Strassen getragen werden, um dies zu zeigen und auf deren Bedeutung hinzuweisen. Besonders junge Menschen fordern von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft Achtsamkeit und Verantwortungsbewusstsein bei Entscheidungen, die Weichen für ihre zukünftige Lebenswelt stellen.

Wer sich bislang noch nicht der ethischen Aspekte ökonomischen Handelns bewusst war, wird dadurch auf sie hingewiesen. Doch wer wirtschaftstheoretische Ansätze sucht, wird mehr als einen finden, und sie unterscheiden sich teils stark, teils graduell voneinander. Welcher davon ist am besten geeignet, die realen Anfordernisse der Zeit zu verstehen und als richtungsgebendes Gestaltungsmoment bei ihrer Bewältigung zu dienen?

Der Beantwortung dieser Frage hat sich eine Dissertation (2023) am Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gal­len anhand empirischer Studien auf dem Sektor gewidmet, der für die Gestaltung der Zukunft von besonderer Relevanz ist: der schulischen Bildung. Gegenstand der Erhebungen war dabei die Einführung des Schulfachs «Wirtschaft/Berufs-­ und Studienorientierung» an allgemeinbildenden Schulen des deutschen Bundeslandes Baden-­Württemberg. Nachfolgend werden Anlage, Vorgehensweise und Ergebnisse der Studie kurz dargestellt, wobei verdeutlicht wird, warum und inwiefern die Resultate auch für die Schweiz von Bedeutung sind.

Wirtschaftsethische Theorien

Zunächst zur wichtigsten Grundlage, der Auswahl der wirtschaftsethischen Theorien, deren Eignung zum konstruktiven Einsatz in der ökonomischen Praxis erforscht werden sollte. Ausgehend von der Überlegung, dass die traditionelle Vorstellung der Ökonomik eines relativ simplen, sich selbst über die Märkte regulierenden Systems rational handelnder Protagonisten (der «Homo oeconomicus» als Produzent und Konsument) nicht mehr der Komplexität einer Welt globaler Verflechtungen mit unterschiedlichen Interessensgruppen als Akteuren gerecht wird, wurden die Modelle der Integrativen und der Kulturalistischen Wirtschaftsethik einander im Vergleich gegenübergestellt.

Beide Theorien sind aufgrund ihrer Begründer eng mit der Universität St.Gallen verknüpft. Im Fall der Integrativen Wirtschaftsethik durch Peter Ulrich, der bereits in den 1970er­Jahren den Grundstein für seine Theorie legte und von 1987 bis 2009 den Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen innehatte. Im Fall der Kulturalistischen Wirtschaftsethik durch Thomas Beschorner, der als seit 2011 amtierender Lehrstuhlinhaber und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der St. Galler Universität im Jahr 2013 seine Theorie formulierte.

In der Tabelle werden einige der wichtigsten Unterschiede zwischen den beiden wirtschaftsethischen Modellen anhand dreier Indikatoren dargestellt.

INDIKATOR INTEGRALE WIRTSCHAFTSETHIK KULTURALISTISCHE WIRTSCHAFTSETHIK
Wissenschaftliche Ausrichtung: philosophisch, politisch sozial- und kulturwissenschaftlich
Menschenbild: aufgeklärter, politisch bewusster und aktiver, demokratisch gesinnter Wirtschaftsbürger Individuen, die in der Gesellschaft – von diversen Einflüssen geprägt – unterschiedliche Rollen einnehmen und sich aktiv an Diskursen beteiligen
Bezugsrahmen: Wirtschaft und deren Beziehung zur Politik aktuelle Diskurse in allen gesellschaftlichen Bereichen und Systemen

Wirtschaft als Schulfach

Baden-­Württemberg ist das zweite deutsche Bundesland neben Nordrhein­-Westfalen, das die zuvor auf unterschiedliche Fächer verteilten Lehrinhalte über wirtschaftliche Zusammenhänge an allgemeinbildenden Schulen in ein eigenes Fach bündelte. Die dazu notwendigen Entscheidungen und Vorbereitungen in Baden­-Württemberg gehen zurück auf das Jahr 2016. Die Diskussion um Form und Inhalt des neuen Schulfachs wurde von der Landesregierung auf breiter gesellschaftlicher Basis geführt.

Zentral war ein einberufenes Gremium von Vertretern der Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Interessensvertretungen von Lehrkräften, Eltern und Schülern, das unter anderem einen gemeinsamen Verhaltenskodex beschloss, um Einseitigkeit in der Gestaltung von Curricula und konkreten Unterrichtsinhalten zu vermeiden.

Trotzdem erhob sich bereits in der Vorbereitungsphase Kritik, die solche Entwicklungen befürchtete. Gegenstand wa­ren diverse Initiativen der Unternehmerseite, die Gestaltungsmöglichkeiten des Schulunterrichts für Lehrende und Schüler durch spezielle Informationsmedien sowie Zusatzangebote zu erweitern. Die Einführung des Fachs an den allgemeinbildenden Schulen des Landes begann schliesslich im Schuljahr 2018/2019.

Studienhintergrund

So weit ein kurzer Abriss des Beispiels, das der Studie über die Praxistauglichkeit der beiden ausgewählten wissenschaftsethischen Modelle zugrunde gelegt wurde. Um einen möglichst umfassenden Überblick über dessen Realität in Baden-­Württemberg zu gewinnen, wurden mehrere Analysen miteinander verbunden: eine qualitative Betrachtung von offiziellen Lehrbüchern, deren subjektiv empfundener Wert wiederum in Befragungen von Lehrkräften und Ausbildern erfasst wurde.

Dabei wurde gleichzeitig nach weiteren informellen (also zum Beispiel von Wirtschaftsverbänden zur Verfügung gestellten) Quellen sowie deren Beurteilung gefragt. Darüber hinaus wurden die Erkenntnisse aus beziehungsweise Interpretationen von bereits vorliegenden Umfragen unter Schülern und Lehrenden miteinbezogen.

Nur bedingt geeignet

Es wurde festgestellt, dass Lehrkräfte die offiziellen Unterrichtsmaterialien nur bedingt für geeignet hielten, den Unterricht ganz auf ihren Inhalten aufzubauen, und dass deshalb immer wieder auf ergänzende Informationsmedien und andere Angebote, speziell von Verbandsseite, zurückgegriffen wurde. Das Bewusstsein, dadurch möglicherweise die geforderte und gewünschte Neutralität des Unterrichts zu gefährden, war bei jungen Lehrenden, die innerhalb ihres Lehramtsstudiums auf den Unterricht des neuen Fachs vorbereitet worden waren, deutlich ausgeprägter als bei ihren älteren Kollegen, die dazu Fort­ und Weiterbildungsmassnahmen genossen hatten.

Die mit der so vorgefundenen und hier nur umrissenen Situation verbundenen ethischen Fragen liessen sich sowohl mittels der Integrativen wie der Kulturalistischen Wirtschaftsethik auf den Punkt bringen, wobei jedoch nur die Kulturalistische Wirtschaftsethik das erforderliche Rüstzeug für eine Analyse bot, die zu realistischen Prognosen und – daran orientiert – praktischen Lösungsansätzen befähigte.

Bedeutung für die Schweiz

Welche Folgerungen können daraus nun für die Schweiz gezogen werden? Formal gesehen ist die Bildungssituation hier ganz anders. Zwar verfügen die Schweizer Kantone hinsichtlich der Bildungspolitik über ähnliche hoheitliche Rechte wie die deutschen Bundesländer.

Doch die von der Bundesverfassung vorgegebene Verpflichtung zur Harmonisierung wichtiger Ziele und Strukturen im Bereich der obligatorischen Bildung, die über die Erziehungsdirektorenkonferenz gewährleistet wird, lässt Alleingänge wie in Deutschland nicht zu.

Was die Inhalte des in Baden-­Württemberg der Wirtschaft gewidmeten Schulfachs betrifft, so findet es seine Entsprechung in dem schweizerischen «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt», das – ebenfalls 2016 – die Themenpalette und Ausrichtung des Fachs «Hauswirtschaft» veränderte und deutlich erweiterte vor dem Hintergrund des Verständnisses, dass auch private Haushaltsführung die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Rollen verlangt (etwa der des Konsumenten und Arbeitnehmers oder Unternehmers), die deutlich über das rein Private hinausreichen.

An dieser Stelle schliesst sich der Kreis. Es sind diese genannten und weitere gesellschaftliche Rollen, in denen die eidgenössischen Bürger so wie die aller anderer Industriestaaten nach Neuorientierung und Umdenken im Interesse von Nachhaltigkeit und – soweit möglich – einer Umkehr zu einem natur-­ und damit auch menschenfreundlicheren Umgang mit den vorhandenen Ressourcen verlangen, nach Schutz ihrer jeweiligen Umwelt und der eigenen Gesundheit. Dies ist nur machbar auf der Basis eines gemeinsamen Wertesystems. Ein solches System bietet – für den Bereich der Ökonomie – die kulturalistische Wirtschaftsethik, wie durch die Erkenntnisse aus der dargestellten Dissertation belegt wurde.

(Erstpublikation: KMU-Magazin Nr. 7/8, Juli/August 2023)