Dr. Irene Pill 12.03.2024

Mit Abstand am besten — aber mit welchem?

Vom unterschiedlichen Raumverhalten in anderen Kulturen: «Rück mir nicht auf die Pelle!» Diesen Appell kennen wir sicher alle. Doch sind wir uns auch dessen bewusst, dass die «Pelle» und damit das Raumverständnis und Raumverhalten kulturabhängig vollkommen konträr sein können?

Abstand ist nicht gleich Abstand

Wer wie ich regelmässig hinter Chiasso die italienische Autostrada gen Süden befährt, muss hinter der Schweizer Grenze jedes Mal zunächst tief durchatmen, um sich dann an die in nächste Nähe aufrückenden und seitlich vorbeiflitzenden Fahrzeuge zu gewöhnen.

Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht? Sind Sie vielleicht schon einmal ins Schwitzen geraten, war Ihnen unwohl oder haben Sie sich gestört gefühlt und gar geärgert, weil Ihr Gegenüber Ihnen zu nah gekommen ist – ganz gleich, ob per Auto oder physisch?

Diese spezielle Form nonverbaler Kommunikation kann Ihnen innerhalb Ihrer eigenen Kultur passieren, woanders allerdings kommt sie häufig vor und ist bisweilen ausgesprochen konfliktträchtig. Der Sicherheitsabstand, den jedes Individuum benötigt, um sich wohlzufühlen und gegen «Eindringlinge» zu schützen, ist kulturbedingt: Räumliche Signale werden im Rahmen der Sozialisation, des Hineinwachsens in die eigene Kultur erlernt und gedeutet. Oft aber ist man sich dieses kulturtypischen Raumverständnisses nicht bewusst, und die Gefahr ist gross, in unangenehme Situationen zu geraten. Der vermeintlich falsche, als belästigend verstandene Zwischenraum ist Ursache für Fehlinterpretationen und empfindliche Störungen. Dabei kann das Unterschreiten ebenso wie das Überschreiten des Abstands als unbehaglich wahrgenommen werden.

Auf Tuchfühlung

Beispiele lassen sich zuhauf anführen. Deutsche und US-Amerikaner beklagen sich oft, dass Südländer ständig ganz nah dran und reichlich aufdringlich seien. Und Südländer monieren häufig, dass Deutsche und US-Amerikaner sich so distanziert, kalt und wenig vertrauensvoll verhielten. Die Crux dabei ist: Wenn jemand einem zu nahe tritt, rückt man automatisch von dem angeblichen Bedränger weg; allerdings versteht der Kommunikationspartner mitunter das Zurückweichen falsch und rückt erneut auf, um wieder eine im wahrsten Sinne des Wortes entgegenkommende Nähe zu erzeugen – ein klassischer Teufelskreis.

Kontaktreiche Kulturen bevorzugen also viel körperliches Nahesein, während kontaktarme Kulturen körperlichen Abstand wahren. In der Schweiz, Deutschland, Skandinavien oder Nordamerika wird als noch halbwegs angenehme interpersonale Distanz allermindestens die Länge eines ausgestreckten Arms angegeben, das sind 50 Zentimeter, besser jedoch mehr als 1,50 Meter. In lateinamerikanischen, arabischen und südeuropäischen Ländern ist die Entfernung voneinander wesentlich kürzer und manchmal so klein, dass sich Personen mit Händen oder Schultern berühren und sogar der Atem zu spüren ist.

Von Sitzplätzen und Handtüchern

Das kulturell stark differierende Raumempfinden offenbart sich ebenso bei der unterschiedlichen Raumsprache. So zeigen beispielsweise Deutsche oft ein markantes Territorialverhalten. Bei ihnen ist der Stellenwert von Sitzplatzreservierungen, ob im Restaurant, Bus oder Zug, nicht selten ausgesprochen hoch. Das Bedürfnis nach räumlicher Abgrenzung, Vorhersehbarkeit und Unsicherheitsvermeidung kommt dabei auch am Pool und Strand zum Ausdruck – nicht immer zur reinen Freude anderer Erholungssuchender.

Zunächst einmal ist es entscheidend, dass man überhaupt erkennt, dass auseinandergehendes Raumverständnis und -verhalten dahinterstecken, wenn einem jemand scheinbar zu nah auf die Pelle rückt und man genervt reagiert.

Dann sollte man sich klarmachen, dass das Verhalten des Kommunikationspartners mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht aggressiv gemeint ist, sondern schlicht eine interkulturelle Herausforderung bedeutet. Der zugegebenermassen nicht ganz einfache Königsweg für kulturadäquates Raumverhalten ist also, so zu agieren, dass man sich durch den anderen nicht bedrängt fühlt, dieser aber auch nicht den Eindruck gewinnt, dass er abgewiesen wird.

Und nicht zuletzt sollten international agierende Unternehmen darauf achten, dass bei interkulturellen Trainings, neben vielen anderen Aspekten natürlich, insbesondere die nonverbale Kommunikation mit dem unterschiedlichen Raumverhalten eine zentrale Rolle einnimmt, um Missverständnisse oder Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen.

Wie gesagt, immer wenn ich hinter Chiasso auf die italienische Autostrada komme, atme ich erst einmal tief durch. Und dann freue ich mich, dass ich mich nach kurzer Zeit an das andersartige Raumverständnis gewöhne – und mit einem angenehmen Flow gen Süden fahre.

(Erstpublikation: personalSCHWEIZ, Februar 2024)