01.05.2016

«Die Chancengleichheit bleibt eine Baustelle»

Carolina Müller-Möhl gehört zu den einflussreichsten Frauen in der Schweizer Wirtschaft. Die Unternehmerin und Philanthropin engagiert sich unter anderem für ein besseres Bildungssystem und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Für die Zukunft wünscht sie sich ein ganzheitliches Bildungsverständnis.

Frau Müller-Möhl, warum liegt Ihnen das Thema Bildung am Herzen?
Bildung spielt im Leben jedes Menschen eine zentrale Rolle. Sie ist die Basis für ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben. In der Schweiz ist Bildung der einzige Rohstoff, den wir haben. Dabei beschränkt sich Bildung nicht auf die reguläre Schulzeit, sondern beginnt bereits vorher und endet auch danach nicht. Fürs Lernen ist man nie zu jung und nie zu alt – deshalb verstehe ich Bildung als «lebenslanges Lernen».

 

Das lebenslange Lernen ist quasi zur Selbstverständlichkeit geworden, dennoch gibt es wenige Ansätze in Politik und Wirtschaft, die dieses Konzept auch konstitutiv angehen. Warum ist dem so?
Meiner Meinung nach ist die Schweiz mit ihrem dualen Bildungssystem und dem umfangreichen Weiterbildungsangebot gut aufgestellt. Dieses System sorgt für Durchlässigkeit. Es bietet ausserdem allen Altersstufen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Lebenslanges Lernen, wie ich es verstehe, ist aber eher eine persönliche Sache als eine Staatsaufgabe.

 

Nun verändert sich die Art zu lernen mit virtuellen Klassenräumen, Online-Assessments, MOOCs (Massive Open Online Courses) usw. zusehends. Wo sehen Sie die grössten Chancen der Digitalisierung im Bildungswesen?
Der Zugang zu Wissen könnte weltweit Wirklichkeit werden. Auch für Kinder, die nicht von einer obligatorischen, öffentlichen, kostenlosen und qualitativ guten Schule profitieren können. Ausserdem könnte die Digitalisierung dem Konzept der individuellen Förderung zum Durchbruch verhelfen.

 

Wissen ist heute rund um die Uhr, überall auf dem Globus für alle verfügbar. Hochschulen erreichen neue Zielgruppen, etwa Studierende in Entwicklungs- und Schwellenländern…
In Standford studieren zurzeit rund 16‘000 Menschen. Für den beliebtesten MOOC dieser Universität haben sich über eine Million Studenten von überall auf dem Globus eingeschrieben. Oder die Khan Academy, deren Mission es ist, kostenloses Lehrmaterial – tausende von Lernfilmen in bald vierzig Sprachen – für Schüler auf der ganzen Welt anzubieten.

 

Angesichts dieser Entwicklungen könnte man annehmen, dass die Chancengleichheit in der Bildung bereits Realität geworden ist?
Die Chancengleichheit hat ohne Zweifel Fortschritte gemacht. Trotzdem bleibt sie eine hartnäckige Baustelle, auch in der Schweiz. Noch immer wird der Schulerfolg eines Kindes wesentlich von seiner individuellen Herkunft geprägt.

 

Wo sollte das Bildungssystem denn ansetzen?
Die unterschiedliche Entwicklung von Kindern beginnt bereits in der frühesten Kindheit. Deshalb besteht Handlungsbedarf, insbesondere bei der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE). Frühe Förderung erhöht die Chancengerechtigkeit und zahlt sich aus. Das beweisen Studien aus den USA. So verringern Massnahmen in diesem Bereich zum Beispiel die Zahl der Sozialfälle. «Je länger wir mit der Förderung von Kindern warten, desto teurer wird es», sagt Nobelpreisträger James Heckman. Einer verstärkten Investition in FBBE kommt bei der Frage nach gleichen Startchancen also eine Schlüsselrolle zu.

 

In der digitalisierten Welt verringert sich die Halbwertszeit des Wissens und das reine Fachwissen verliert an Bedeutung. Die Zukunft erfordert andere, übergeordnete Kompetenzen.
Sind unsere Schulen bereit dazu?

Zurzeit findet in der Tat eine lebendige Debatte darüber statt, wie Schulen im Zeitalter der digitalen
Revolution ihren Auftrag erfüllen können. Wenn die reine Wissensvermittlung nicht mehr die wichtigste Funktion der Schule sein kann, geht es darum, die Persönlichkeit und das Potenzial der Kinder zu fördern.

 

Wie könnte dies aussehen? 
Einen vorbildlichen Weg zeigt beispielsweise die Sekundarschule Petermoos in Buchs, die 2015 den Schweizer Schulpreis gewonnen hat. Sie ist eine Pionierin in der Umsetzung und Weiterentwicklung von Lernlandschaften. Diese Lernlandschaften unterstützen eigenverantwortliches und individualisiertes Lernen.

 

Welche Ansätze sollten also in Zukunft verfolgt werden?
Ein ganzheitliches Bildungsverständnis. Ganzheitliche Bildung fördert die individuelle und soziale Entwicklung und vermittelt umfassende und alltagstaugliche Kompetenzen. Zu lernen wie man lernt, darum geht es im Bildungsprozess. Ganzheitliche Bildung stellt die Interessen der Lernenden in den Mittelpunkt. Sie trägt auch zur Entwicklung der Gesellschaft bei, indem sie das Miteinander in Vielfalt stärkt.

 

Für Lehrer und Dozierende bringen digitale Unterrichtsformen auch neue didaktische Anforderungen mit sich. In welche Richtung entwickelt sich der Lehrerberuf?
«Die digitalen Möglichkeiten werden die Verhältnisse zwischen Schülern und Lehrern umwälzen», prognostiziert Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung, in seinem Buch «Die digitale Bildungsrevolution». Der Lehrer wird für seine Schüler nicht mehr die einzige Quelle des Wissens sein, sondern eine Art Coach, der die Schüler führt. Guter Unterricht ist und bleibt aber entscheidend. Nur ein
Lehrer, der sein Fach mit Leidenschaft vermittelt, kann die Schüler begeistern. Dann ziehen sie gerne mit. Wir haben das auch im Zusammenhang mit dem Schweizer Schulpreis immer wieder beobachtet.

 

Sie engagieren sich mit Ihrer Stiftung stark für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Welches sind heute noch die grössten Stolpersteine für Frauen in der Wirtschaft und welche Rolle spielt unser Bildungswesen dabei?
Der grösste Stolperstein liegt in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie selbst. Sechs von zehn Frauen arbeiten Teilzeit. Häufig bedeutet eine Teilzeitbeschäftigung geringere Karrierechancen. Weiterbildungsmöglichkeiten wie das Programm «Women back to Business» der Universität St. Gallen, welches wir mit der Müller-Möhl Foundation unterstützen, können Frauen für den Wiedereinstieg nach einer Familienpause fit machen.

 

Auch ein Fernstudium ist eine Option, sich für den Wiedereinstieg vorzubereiten. Generell stellen wir als Fernfachhochschule ein steigendes Interesse an flexiblen berufsbegleitenden Studienmodellen fest. Sehen Sie darin ein Potenzial, dem Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen?
Ja, auf jeden Fall. Solche Angebote können, wie auch die bereits erwähnte Initiative «Women back to Business», einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten. Ausserdem rufe ich Frauen generell dazu auf, keine Berührungsängste zu haben und sich auch in sogenannte Männerdomänen wie Technik und Naturwissenschaften zu wagen.

 

Unter welchen Umständen hätten Sie sich persönlich für ein Fernstudium entschieden?
Wenn mir meine persönliche Lebenssituation nicht erlaubt hätte, mein Studium mit meinem beruflichen Engagement und meinen familiären Verpflichtungen in Einklang zu bringen. Oder eben als Wiedereinsteigerin auf der Suche nach einem von Ort und Zeit unabhängigen Studium.

 

Zum Abschluss noch dies: Lesen Sie persönlich lieber E-Books oder klassische Bücher?
Klassische Bücher.


Frau Müller-Möhl, herzlichen Dank.

 

CAROLINA MÜLLER-MÖHL ist Präsidentin der Müller-Möhl Group und der Müller-Möhl Foundation. Die Investorin und Philanthropin fokussiert in ihrer Stiftung auf die Themen Bildung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Förderung des Wirtschaftsstandortes Schweiz und Philanthropie im Allgemeinen.
Die Müller-Möhl Foundation engagiert sich für eine Bildungspolitik, die allen Bürgern zugänglich ist. Sie unterstützt ein Bildungssystem, das aus jungen Menschen mündige Bürger macht, die auf den steten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel zu reagieren wissen. Carolina Müller-Möhl ist ausserdem Co-Präsidentin des Vereins Forum Bildung und hat den Schweizer Schulpreis mitgegründet.