Nicole Bittel 01.05.2016

Digital Storytelling – Sind Geschichten die besseren Lehrer?

Wenn es Hochschulen gelingt, die uralte Methode des Geschichtenerzählens mittels neuen digitalen Technologien in den Lehrplänen zu etablieren, dann bieten uns Geschichten etwas in einer Informationsgesellschaft nicht Selbstverständliches, nämlich Sinn.

«Geschichten zu erzählen ist nicht etwas, was wir tun. Geschichten zu erzählen ist, wer wir sind.» Dieser Satz stammt aus Carmine Gallos 2016 erschienenen Buch «The Storyteller’s Secret». Und er trifft damit ins Schwarze. Denn die Evolutionstheorie ist sich sicher, dass Menschen die Fähigkeit und das Bedürfnis, Geschichten zu hören und zu erzählen, in sich tragen. Geschichten in Form von Mythen und Legenden sind daher so alt wie die Menschheit selbst. Seit Anbeginn unserer Zeit erzählten sich die Völker, wie die Welt entstanden ist, wie Naturgewalten, das Leben und schliesslich der Tod zu erklären sind. Als Höhlenmalereien oder mündliche Erzählungen überlieferten unsere Vorfahren ihren Nachkommen, was sie für ihr Überleben und Zusammenleben wissen mussten. Geschichten dienten dazu, Werte und Normen zu vermitteln, die Komplexität der Realität herunterzubrechen, Sinn und Ordnung zu schaffen.

Wir können also behaupten, dass Geschichten die ersten Lehrer waren, da sich die Menschen seit jeher durch sie die Welt erklären. Ob sie aber auch die besseren Lehrer sind? Nun, lassen Sie uns diesen Gedanken weiterverfolgen …

Haben Geschichten in einer komplexen Informationsgesellschaft noch ihre Berechtigung?

Der homo narrans als Ergebnis der evolutionären Entwicklung mag in unserer hochkomplexen Gesellschaft überholt erscheinen. Wie sollen Geschichten mit ihrer simplen Struktur die vielschichtigen Herausforderungen unserer Realität abbilden oder sogar lösen können? Was können Geschichten heute noch leisten?

Die Antwort lautet: Das Stiften von Sinn und Bedeutung. Denn während Informationen in der heutigen Welt im Überfluss vorhanden sind, ergibt sich ihr Sinn erst durch unsere emotionale und kognitive Verarbeitung. Und diese geschieht in unserem Gehirn bevorzugt über Geschichten, weil diese die «trockenen» Informationen in bedeutungsvolle Zusammenhänge bringen und so Wissen erzeugen.

Geschichten verlieren also auch in unserer hochkomplexen Gesellschaft keineswegs ihre Funktion. Sie werden im Gegenteil wichtiger, weil das Stiften von Sinn und Bedeutung angesichts der Informationsflut immer anspruchsvoller wird.

Geschichten sind die besseren Lehrpläne

Ein Blick in die Hörsäle bestätigt: Das uralte Format des Geschichtenerzählens wird nach wie vor rege genutzt. Die meisten Lehrpersonen binden Geschichten in ihren Unterricht ein – zum Beispiel in Form von Anekdoten, Fallbeispielen oder Gedankenexperimenten. Dies geschieht jedoch meist spontan, intuitiv und wenig systematisch. Gerade ein systematischer Einsatz von Storytelling an Hochschulen als didaktische Methode könnte aber helfen, das Potenzial besser zu nutzen. Denn auch wenn sich unser Bedürfnis nach Geschichten über die Zeit kaum gewandelt hat, so haben wir heute dank digitalen Technologien ganz neue Möglichkeiten, wie wir unsere Geschichten erzählen.

Digitales Storytelling ist längst schon kein Trend mehr, sondern fester Bestandteil unserer Erzählkultur. Heute erzählen wir viele unserer Geschichten mit technischer Hilfe des Internets, Digitalkameras und Smartphones und nutzen neue Wege, unseren Storys eine Stimme zu geben. Für die Hochschulen lohnt es sich deshalb, diese neuen Wege bewusst auszuloten und ihre Dozierenden bei der Umsetzung zu unterstützen. Die amerikanische Journalistin Nayomi Chibane hat für das Jahr 2016 fünf digitale Storytelling Trends definiert, die auch für den Unterricht grosses Potenzial bergen.

Visual Storytelling bedeutet, die Kraft von Geschichten mit der von Bildern zu kombinieren. Auf diese Weise lassen sich nachhaltige Botschaften kreieren, die unser Gehirn einfacher verarbeiten kann. Was im Marketing schon länger genutzt wird, ist deshalb auch für den Unterricht interessant.

Interactive Storytelling stellt das Bedürfnis des Zuhörers, sich einbringen zu wollen, in den Fokus. Soziale Netzwerke wie Instagram, Facebook und Twitter zeigen, wie diese neue Interaktivität funktioniert. Und Hochschulen müssen sich fragen, welche Rolle sie diesen neuen Medien im Unterrichtsalltag zugestehen.

Unter Virtual Reality etabliert sich zurzeit ein Trend, der das Lehren und Lernen in den nächsten Jahren beeinflussen wird. In einer virtuellen Umgebung entsteht für den Nutzer die Illusion, dass das, was er vor sich sieht, auch tatsächlich geschieht. So lassen sich auch komplexe Lernsituationen, zum Beispiel im Medizinstudium, für den Studierenden realitätsgetreu durchleben.

 

Schliesslich könnte Transmediales Storytelling neue didaktische Impulse liefern. Die Studierenden werden in einer zusammenhängenden Story durch ein Modul oder Semester geführt, wobei Teile der Geschichte in verschiedenen Kanälen erzählt und mitgestaltet werden können.

Sind Geschichten also die besseren Lehrer? Ja, wenn diesem uralten Format mit seinen neuesten technologischen Möglichkeiten ein fester Platz in den Lehrplänen der Hochschulen zugestanden wird, um bedeutungsvolle Lernsituationen zu schaffen.

 

STORYTELLING MIT COLLABORATIVE GAMEBOOKS

Collaborative Gamebooks sind ein Beispiel dafür, wie Digital Storytelling im Unterricht angewendet werden kann. Es handelt sich um interaktive Geschichten, mit welchen Wissen spielerisch und auf gezielte Art und Weise vermittelt wird. Die Spieler sind Teil einer Geschichte, welche sie selbst beeinflussen können, indem sie laufend aus vorgegeben Handlungsoptionen wissensbasierte Entscheide fällen. Sie erhalten ein unmittelbares Feedback auf ihre Handlungen und beeinflussen so den weiteren Verlauf der Story. Für die Spieler bzw. die Lernenden machen die Handlungen immer einen Sinn, denn sie haben sich ja selbst in die entsprechenden Situationen hineinmanövriert. Bei kollaborativen Gamebooks ist man nie alleine, da man von Zeit zu Zeit auf andere Spieler stösst, mit welchen man in Kollaboration oder Konkurrenz verschiedene Aufgaben löst, um in der Story weiterzukommen und letztlich ein gegebenes Ziel spielerisch zu erreichen. Die FFHS produziert solche Spiele selbst und hilft auch interessierten Dozierenden, kollaborative Gamebooks für ihren Unterricht zu erstellen.

 

* Nicole Bittel ist Forschungsfeldleiterin im Team eCollaboration des Instituts für Fernstudien- und eLearningforschung (IFeL) an der FFHS. nicole.bittel@ffhs.ch