01.05.2017

«Es braucht Veränderungscharakter»

Firmen wie Airbnb und Uber sind Vorreiter der digitalen Transformation. Mit neuen Ideen und digitaler Technologie verändern Sie ganze Märkte. Auch die Industrie in der Schweiz ist im Wandel, wie das Trend-Thema «Industrie 4.0»

4.0» scheint sich in die Reihe der drei historischen industriellen Revolutionen einzugliedern: Ab 1750 mechanisiert die Dampfkraft die Industrie. Elektrizität und Fliessband ermöglichen um 1900 die Massenanfertigung. IT und Elektronik schliesslich automatisieren ab 1980 die Produktion. 2011 lancierte das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung das Zukunftsprojekt «Industrie 4.0». War das der Startschuss für die vierte industrielle Revolution?

Vernetzte Wertschöpfung

Wer heute von Industrie 4.0 spricht, meint die Digitalisierung der Industrie, also vernetzte Wertschöpfungsketten, Sensordaten am Fliessband, technische Assistenzsysteme für Fabrikarbeiter oder intelligente Steuerungssysteme, die ohne menschliche Einwirkung mit Störungen umgehen und untereinander kommunizieren können. Der informierte Konsument denkt an Produkte, die vollkommen auf ihn zugeschnitten und zum Preis eines Serienproduktes hergestellt werden. «Losgrösse 1» nennen Insider das.

Und tatsächlich: Die Industrie verändert sich. «In vielen Zweigen der Industrie stehen Firmen aktuell extrem unter Preisdruck. Sie müssen etwas tun, um gegen die Billig-Konkurrenz bestehen zu können. Auch zeigen Beispiele aus industriefernen Branchen, dass kein Markt sicher ist vor der digitalen Transformation. » Das sagt Rolf Höpli, diplomierter Informatiker, Innovationsspezialist, Direktor und Partner bei der Zühlke Engineering AG. Das renommierte Beratungsunternehmen unterstützt Firmen bei der Entwicklung und Realisierung von innovativen Business-Modellen. Höpli zitiert die Galionsfiguren der radikalen Branchentransformation: Uber, Airbnb, Tesla, Apple. Firmen, die mit neuen Ideen und digitaler Vernetzung den Nahverkehr auf den Kopf stellen, die Hotellerie umkrempeln oder wie Apple mit iPhone und App Store sogar neue Märkte generieren.

Industrie digital transformiert

Gemeinsam ist Firmen, die ihre Branche revolutionieren, aber nicht nur das Digitale und die Vernetzung. «Es sind Firmen, die über den Tellerrand hinausschauen, die sich mit neuen Geschäftsmodellen von der Konkurrenz abheben», erklärt Innovationsspezialist Höpli. Wer nicht auf neuartige, bessere Produkte setze, sei gezwungen sich über den Preis abzuheben. Preisschlachten allerdings sind für Betriebe in der Schweiz kaum zu gewinnen. Rolf Höpli schildert den Fall eines Kunden, der CAD-Pläne evaluiert, lange in Handarbeit, obwohl 80 Prozent der Arbeit Routine ist. Heute beurteilt ein Data-Analytics-Algorithmus die eingereichten Pläne, Ingenieure kümmerten sich nur noch um die schwierigen Fälle. «Das bedeutet im Sinne von Industrie 4.0 einen enormen Effizienzgewinn», schliesst Höpli. Der Betrieb überlebt, weil er effizienter, schneller und damit günstiger wird. Transformativ sei das aber noch nicht. 

Denn erst, wenn neue Technik ein neues Geschäftsmodell antreibt, kann sie ein Unternehmen langfristig voranbringen. «Unsere CAD-Firma könnte zum Beispiel ihren Algorithmus über eine digitale Plattform kleineren Büros zur Verfügung stellen und die Benutzung in Rechnung stellen», erklärt Höpli. Stärkere Vernetzung, mehr Automatisierung, wie sie Industrie 4.0 vorsieht, seien wichtig. Aber: «Industrie 4.0 ist nur ein Aspekt der digitalen Transformation. Die Musik spielt auf der Ebene der Geschäftsmodelle.»

 

Harzige Revolution

Warum setzen also nicht mehr Industriebetriebe auf Mähdrescher, die wissen, wann sie einen Ölwechsel oder neue Reifen brauchen, die Bauern pünktlich zum Erntetag zur Verfügung stehen, und die Ingenieure aus der Ferne warten können? Warum gibt es nicht mehr Firmen, die statt Schlösser digital vernetzte Schliesssysteme verkaufen, über welche Kunden per App Zutritt gewähren oder verwehren können?

Die lakonische Antwort lautet: Weil es schwierig ist. Firmen müssen den Veränderungsdruck spüren, sie müssen investieren können und sie müssen sich kritisch hinterfragen dürfen. Beim letzten Punkt setzt Rolf Höpli an: «Innovation ist eine Frage der Unternehmenskultur. Man muss Tabufragen stellen dürfen.» Als Berater frage er seine Kunden immer: «Was müssen wir machen, um Ihre Firma kaputt zu kriegen?» Wer die Frage offen und ehrlich beantwortet, so die Idee, entdeckt Innovationsmöglichkeiten. Die Industrie braucht Innovatoren, es braucht Führungskräfte, die «Veränderungscharakter» haben, ist Rolf Höpli überzeugt. Natürlich müssen Ingenieure ihr Grundhandwerk beherrschen, daran ändere sich nichts. Sie müssen aber über die Technik hinaus wissen, wie sie ein Projekt kommunizieren, wie man Support bei den Stakeholdern holt, was der Markt braucht, und was der Kunde will.

Interdisziplinäre Ingenieure

Die Digitalisierung der Industrie hat von Deutschland aus die Welt erobert. In Frankreich hat sich die Initiative als «Usine du Futur», in den USA als «Industrial Internet Consortium» niedergeschlagen und China will mit dem Projekt «Made in China 2025» das prototypische Niedriglohnland zur Industriemacht machen. Gemeinsam ist allen Initiativen, dass sie Fachleute und Führungskräfte brauchen, die die immer stärker automatisierten und vernetzten Wertschöpfungsketten, von der Entwicklung, über die Nutzung bis zum Recycling, überblicken.

David Gemmet hat als Fachverantwortlicher an der FFHS den schweizweit ersten Master-Studiengang zu Industrie 4.0 aufgebaut. Für ihn steht fest, dass Führungskräfte in der Industrie immer interdisziplinärer denken müssen: «In der digitalisierten Industrie braucht ein Experte neben technischen Kompetenzen und Datenanalyse-Skills auch das Wissen, wie Entscheidungsprozesse in einer vernetzten Wertschöpfungskette eingebettet und automatisieret werden. Er wendet diese Kenntnisse an, um das Geschäftsmodell des Unternehmens vom klassischen Produktherstellungsansatz in eine Denkweise des gewinnbringenden Servicemodells zu transformieren.»

Ob Industrie 4.0 nun tatsächlich die vierte industrielle Revolution ist, wird die Geschichte zeigen. Es häufen sich aber die Indizien, dass ein Wandel im Gange ist, der nach einer neuen, ganzheitlichen Sichtweise verlangt. Auch in der Industrie.