Marcel Weder 26.04.2023

Warum «So gut wie möglich» und «So gut wie nötig» gleichzeitig geht

Speziell im Bereich Forschung und Entwicklung stellt sich die Frage, wann und wo Premium-Qualität zu leisten ist. Während gemeinhin die Ausrichtungen «So gut wie möglich» und «So gut wie nötig» als Widerspruch gelten, zeigt der Beitrag, dass auch beide Atteste gleichzeitig funktionieren können.

Würde man dem Volksmund folgen, hielte man die beiden Atteste «So gut wie möglich» und «So gut wie nötig» für einen Widerspruch. Doch auf den Themenkreis Qualität – Entwicklung – Verkauf angewandt, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen des «Möglichen» wie auch nach den Auswirkungen des «Nötigen/Notwendigen» – den jeweiligen Grenzbetrachtungen beider Attestpole.

Qualität als Charakterfrage

Bekanntlich entstehen Produkte und Leistungen bereits im Geiste, in den Gedanken der jeweiligen Ingenieure und Entwickler. Dabei begegnen wir der Denkweise «Alles möglich Machbare – technisch alles Mögliche» dem Kunden anzupreisen und zur Verfügung stellen zu wollen. Begeben wir uns auf eine Spurensuche nach dem hierzulande unbändigen Drang, Maximalprodukte/-­leistungen hervorbringen zu müssen, und weshalb das auf den Markt ausgerichtete Notwendige die kaufmännisch tragfähigere Produkte- und Leistungsstrategie darstellt. Qualität für eine Unternehmung ist einerseits eine Frage nach der eigenen Unternehmenspositionierung im Markt – «will ich im Premium­-Segment mitmachen oder im Preiskampf des Massengeschäfts?».

Ferner ist dies ebenso eine Frage der persönlichen Gesinnung – «will ich meine Aufgaben, Herausforderungen, Probleme durch eine gute, zuverlässige, nachhaltige Lösung versehen oder durch schlampiges Dahinpfuschen?». In diesem Lichte ist Qualität für ein Unternehmen und deren oberste Führung auch eine Charakterfrage. Dies, weil die Kultur einer Unternehmung von der geschäftsleitenden Person vorgegeben und vorgelebt wird.

Es ist nicht notwendig, überall Premium-Qualität zu leisten. Jedoch dort, wo es die eigens festgelegte Marktpositionierung gebietet, ist Premium-­Qualität unabdingbar. Es ist für Unternehmen jeglicher Art wichtig zu erkennen, dass sie nicht überall herausragend sein können. Es zählt hierbei die eigene «business intelligence», um herauszufinden, in welchen Bereichen und Aspekten Premium-­Qualität kompromisslos hervorzubringen ist. Letztlich gilt das Credo: «Wir müssen nicht alles tun – aber das, was wir tun, tun wir besser als jeder andere.» Diese Einstellung ist vergleichbar mit derjenigen eines Leichtathletiksportlers, der sich ebenfalls grundlegend entscheiden muss – «will ich Einzeldisziplinenkämpfer oder Zehndisziplinenkämpfer» sein?

In der Berufspraxis neigen Ingenieure, Physiker, Chemiker aufgrund ihrer persönlichkeitskulturellen Korrektheit hierzulande dazu, naturwissenschaftlich brillante Entwickelnde, jedoch schlechte Verkaufende zu sein. Entwickelnde sind jene oftmals deshalb geworden, weil sie sich seit Kindsbeinen an mit Naturwissenschaften – namentlich mit Ratio und Verstand – auseinandersetzen konnten und nicht so sehr mit herzgeleiteter Kommunikation, weshalb sich Entwickelnde mit dem gewinnenden Umgang mit Mitmenschen eher schwertun.

Premium, aber kundenfern

Die technische Historie fördert zutage, dass Naturwissenschaftler und Ingenieure oftmals der irrtümlichen Auffassung sind, ein Produkt oder eine Leistung entwickeln zu müssen, die – analog einem Leichtathletikzehnkämpfer – jede Disziplin zu bedienen vermag und gerade deshalb den Kunden überzeugen würde. Ingenieure lassen dadurch mitunter die Produkte und Leistungen durch deren vielfach überentwickelte Merkmale und Eigenschaften dem Kunden gegenüber an ihrer Stelle sprechen. Das Produkt / die Leistung spricht durch das, was es kann.

Mitunter ist dem naturwissenschaftlich orientierten Entwickelnden die Schlüsselfrage an den Kunden «Was wollen Sie konkret?» fremd. Die Folge davon sind Produkte und Leistungen, die am Bedürfnis des Kunden vorbeizielen, mit dem Resultat, dass die Produkte und Leistungen «unerfragte» Merkmale und Eigenschaften enthalten, derer der Kunde nicht bedarf und deshalb für das angebotene Mehrkönnen auch nicht bezahlt. Die Qualität eines Produktes oder einer Leistung beginnt bereits in dessen Konzeption und nicht erst bei der Güte der materiellen Ausführung, das heisst, nicht erst in der Produktion.

Das persönliche Reden mit dem Kunden – dieses «listening to the voice of the customer» – ist die adäquate, qualitätsförderliche Verhaltensweise, um daraus exakt diese Einzeldisziplinen, Merkmale und Eigenschaften in Premium­-Qualität zu entwickeln, derer der Kunde bedarf und für die er deshalb auch bereit ist zu bezahlen. Diese Handhabung kommt dem Credo gleich: «‹So gut wie nötig› bei gleichzeitigem ‹So gut wie möglich›». Dies ist kein Widerspruch, denn es bedeutet: «Wir tun für den Kunden nur das, was nötig ist, jedoch tun wir dieses Notwendige so gut wie möglich – in Premium-Qualität versteht sich.»

Sonderwege

Im Lichte von Technologie und Innovation gilt es, sich – bei all den Bedürfnissen eines Kunden – die Frage zu stellen: «Was sind die Konsequenzen für das Niveau von technischen Innovationen?» Genaue Betrachtungen fördern darin zutage, dass hochgradige Innovationen frei von jeglicher Kundenmeinung entstanden sind – namentlich, dass wirkliche Novitäten buchstäblich ungefragt auf den Plan und in den Markt treten. Technologiehistorien bezeugen, dass das Düsenflugzeug fraglos von anderen Fluggeräteantriebsherstellern hervorgegangen war als das Propellerflugzeug. Ebenso wenig war die damalige Anwendung der Dampfmaschine auf einem Hochseeschiff nicht durch die Holzsegelschiffhersteller hervorgegangen. Und auch die Entwicklung der ersten elektronischen Bildschirmschreibmaschine (Personal Computer) ging nicht durch die kundenreichen Hersteller mechanischer Schreibmaschinen hervor, sondern durch den in diesem Segment kundenlosen italienischen Elektronikpionier Camillo Olivetti. Ebenfalls wurde die CD­ROM als Ton­ und Datenträger technologisch nicht von einem Schellackplattenhersteller hervorgebracht, sondern ist – wie es dem Wesen hochgradiger Innovation entspricht – von aussen ungefragt den Märkten zuteil geworden. Hochinnovationen kennen keine Kunden und keine Bedürfnisse, sondern kennen nur bahnbrechende Ideen, die zur Realität werden wollen.

Entscheidungsfindung

Letztlich muss man sich als Naturwissenschaftler, Entwickelnde und als Unternehmen schlechthin im Klaren darüber werden, auf welchem Niveau man Technologie und Innovation hervorbringen und betreiben will. Verlässt man mit seinen Neuheiten, die man als Erste auf den Markt bringt, sämtliche bisherigen Konzepte und Erfahrungen (innovationsspezifisch ein «re­think» genannt), gibt es dazu zur Stunde Null noch keine Kundschaften, die man nach dessen Bedürfnissen befragen könnte. So wie die damaligen Dampfschiffhersteller bald merkten, dass sie die Dampfmaschine nicht auf ein Holzschiff bauen dürfen, da die menschliche Erfahrung sie lehrte, dass sich Feuer und Holz zu nahe beisammen nicht vertragen.

Oder verharrt man mit seinen technischen Entwicklungen auf den bisherigen Konzepten und Erfahrungen (innovationsspezifisch ein «re­view» genannt) – beispielsweise indem man einem dreimastigen Holzsegelschiff lediglich ein bis zwei zusätzliche Masten einbaute. Eine Massnahme, die das Antriebskonzept des Segelschiffs «wenn kein Wind, dann kein Vortrieb» in keiner Weise veränderte, kann man sich dazu durchaus in die Arme einer vorhandenen breiten Kundschaft stürzen, um die zusätzlichen Masten bedürfnisgerecht zu platzieren. Wobei man sich in diesem Szenario sicher sein möge, ausschliesslich das, was der Kunde bedarf, zu erfüllen – in Premium­-Qualität versteht sich – und das, was die Kundschaft bei seinen Produkten und Leistungen nicht wünscht, wegzulassen. Produkt­ und Leistungspositionierungen so gehandhabt, werden in Gewissheit zu kaufmännischgeschäftlichem Erfolg führen.

(Erstpublikation: KMU-Magazin Nr. 3, März 2023)