Ute Eisenkolb / Min Wang 03/01/2021

China – Chance oder Bedrohung?

China entwickelte sich in den letzten 30 Jahren vom Agrarstaat zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt und demonstriert damit den grössten wirtschaftlichen Erfolg in der Geschichte der Menschheit. Diesen Status erreichte das «Reich der Mitte», indem es die Planwirtschaft zu einer pulsierenden marktorientierten Wirtschaft wandelte.

Die Wirtschaftsreformen und bemerkenswerten Fortschritte Chinas konnten 600 Millionen Menschen aus der Armut helfen. Das Land steuert heute mehr als ein Drittel des globalen Wirtschaftswachstums bei. Als ein «riesiger Drache», der aus dem Osten auftaucht, beobachten viele Menschen die Entwicklung Chinas mit Ehrfurcht und Argwohn.

Wovor fürchten sich die Menschen am meisten vor China?

Es ist die Grösse

China ist riesig, 1,3 Milliarden Menschen, ein Viertel der Weltbevölkerung und dem grössten Verbrauchermarkt. Die Dimension der Marktgrösse ist für ein kleines Land wie die Schweiz überwältigend. Die Stadt Shanghai allein hat 22 Millionen Einwohner, während die Schweiz im Jahr 2020 ca. 8.8 Millionen Menschen zählt. Wie können wir als gleichwertiger Partner agieren, während wir mit einem riesigen Elefanten verhandeln?

Es ist die Geschwindigkeit

Seit der Öffnung für Aussenhandel und Direktinvestitionen sowie der Umsetzung marktwirtschaftlicher Reformen im Jahr 1979 gehört China zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Mit einem jährlichen Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) von durchschnittlich 9,5 Prozent in den letzten 30 Jahren legt China ein Tempo vor, das von der Weltbank als «das schnellste nachhaltige Wachstum einer grossen Volkswirtschaft in der Geschichte» bezeichnet wird. Ein solches Wachstum hat das Land in die Lage versetzt, sein BIP im Durchschnitt alle acht Jahre zu verdoppeln, und China entwickelte sich zu einer Volkswirtschaft mit der grössten Kaufkraft, zum grössten Produzenten, Warenhändler und Inhaber von Devisenreserven. Dies wiederum machte China nach der EU und den USA zum drittgrössten Handelspartner der Schweiz.

Wie wir auch beim Umgang mit der Covid-19-Pandemie sehen konnten, ist die Umsetzungsgeschwindigkeit in China enorm. Einmal Beschlüsse gefasst, erfolgt die Realisierung in atemberaubendem Tempo. Während des chinesischen Neujahrsfestes im Februar 2020 wurden in Wuhan innerhalb von zehn Tagen zwei Krankenhäuser mit Tausenden von Betten gebaut, ausgestattet mit entsprechenden Geräten und Isolierung. Nachdem die Abriegelung später aufgehoben war, unterzog man zehn Millionen Bürger in Wuhan innerhalb einer Woche einem Coronatest. Diese Entschlossenheit und Schnelligkeit ist unvergleichlich.

Es ist der Wettbewerb

Wenn Sie schon einmal in China waren, werden Sie wissen, dass Wettbewerbe in China allgegenwärtig sind, vom Preis über die Qualität bis zum Serviceniveau, von Zahlungsmethoden bis hin zur Lieferlogistik. Ein Unternehmen befindet sich stets unter hohem Konkurrenzdruck. Es muss besser, schneller und billiger sein. Das Motto lautet: «Wenn Sie nicht vorangehen, werden Sie zurückbleiben.» Das ist auch der Grund, warum chinesische Kinder sehr hart lernen und studieren. Sie konkurrieren gegen Zehntausende, um einen Platz an einer Universität zu ergattern und ein gutes Leben in China beginnen zu können. Die westlichen Länder spüren, dass diese Wettbewerbsintensität immer näher rückt. China ist bereits führend in den Bereichen der Künstlichen Intelligenz und Digitalisierung sowie bei Technologien wie Hochgeschwindigkeitsbahnen. Mit dieser Wettbewerbs-Einstellung expandieren chinesische Unternehmen weltweit und überholen viele ausländische Unternehmen.

Es ist die unterschiedliche Denkweise

Bereits in der Sprache zeigen sich die Unterschiede, die sich in der (Lebens)Philosophie, in der Gesellschaft, Kultur und Handlungsweise widerspiegeln. Während die westliche Logik auf dem Gesetz der Identität beruht und die Form der Folgerung (Syllogismus) bestimmend ist, tritt bei den Chinesen die Analogie an die Stelle der Folgerung. Hieraus ergibt sich, dass im chinesischen Denken vielmehr die Beziehungsqualität im Vordergrund steht und damit eine relationale oder korrelationale Betrachtungsweise. Damit werden Bezugspunkte als voneinander abhängig und sich gegenseitig ergänzend angesehen. Wenn wir unseren Geist öffnen und uns Zeit nehmen, um dieses andere Land zu verstehen, dann können wir Verbindendes finden und Gemeinsamkeiten feststellen, an denen man anknüpfen sollte.

Bisher übte die USA als Supermacht weltweit einen hohen kulturellen Einfluss aus. Amerikanische Unternehmen prägen die Globalisierung, die gleichwohl zu machtvollen Strukturen in der Finanz- und Geschäftswelt führten. Der Eintritt Chinas in die globalen Märkte wird hingegen mit Argwohn betrachtet. Mit interkultureller Offenheit und interkulturellem Dialog können wir ein gegenseitiges Bewusstsein für unsere jeweilige kulturelle, politische und ideologische Orientierung schaffen.

Welche Möglichkeiten bietet China?

Es ist die Grösse

Wenn wir die andere Seite der Medaille betrachten, dann bietet uns Chinas enorme Grösse auch ein grosses Potenzial. Das beste Alleinstellungsmerkmal der Schweiz ist der Verkauf hochwertiger Produkte in einem Nischenmarkt, wie Luxusuhren, feine Präzisionsmetalle, andere Hightechoder Pharmaprodukte. Trotz ihrer geringen Grösse kann sich die Schweiz im High-End-Nischenmarkt gut positionieren. Unter dem Label Swissness liefert sie Produkte von höchster Qualität. Angesichts der enormen Grösse Chinas kann auch ein kleiner Prozentsatz eines Nischenmarktes sehr profitabel sein.

Es ist die Geschwindigkeit

Die erstaunliche Schnelligkeit, mit der China Ergebnisse liefert, kann auch für uns von Vorteil sein. Viele Technologiefirmen haben dies bereits entdeckt und richten ihre Testlabore in Shenzhen, dem Silicon Valley Chinas, ein. Sie nutzen den Vorteil einer grossen Zahl aufgeschlossener, neugieriger chinesischer Verbraucher, die es lieben, neue Produkte auszuprobieren, und führen ihre Produkttests in China durch. Auf diese Weise können sie Verbraucher-Feedback mit einer viel höheren Rücklaufquote und einer viel schnelleren Durchlaufzeit sammeln und verwerten.

Es ist der Wettbewerb

Der Wettbewerb ist hart, aber er ist der Hauptantrieb für Kreativität und Innovation. Die chinesische Regierung räumte der Innovation in ihrer Wirtschaftsplanung höchste Priorität ein, und zwar durch eine Reihe  hochkarätiger Initiativen, wie z.B. «Made in China 2025», ein 2015 angekündigter Plan zur Verbesserung und Modernisierung der chinesischen Produktion in zehn Schlüsselsektoren durch umfangreiche staatliche Unterstützung. Damit soll China zu einem wichtigen globalen Akteur in diesen Sektoren verholfen werden. Zu diesen Sektoren gehören die Digitalisierung, die Künstliche
Intelligenz und neue Technologiebereiche. China ist bestrebt, sich von einer Manufaktur- hin zu einer Dienstleistungswirtschaft zu wandeln, von «Made-in-China» hin zu «Invented-in-China». Die Schweiz ist ein innovatives Spitzenland in der Welt. Es gibt viele Bereiche, in denen die Schweiz gemeinsam mit China kooperieren und eine führende Rolle anstreben kann, wie zum Beispiel in Bereichen wie Künstliche Intelligenz, Fintech und nachhaltige umweltfreundliche Lösungen.

Der Chinesische Traum

Global zu operieren

Chinas wachsende Wirtschaftsmacht hat dazu geführt, dass es sich zunehmend in globale Wirtschaftspolitiken und -projekte, insbesondere in die Entwicklung der Infrastruktur, einbringt. Chinas «Belt and Road»-Initiative (BRI) stellt eine bedeutende Strategie Chinas zur Finanzierung der Infrastruktur in ganz Asien, Europa, Afrika und darüber hinaus dar. Wenn sie erfolgreich ist, könnten Chinas Wirtschaftsinitiativen die Export- und Investitionsmärkte für China erheblich ausweiten und seine «weiche Macht» weltweit stärken. Chinas Präsident Xi Jinping kündigte in seiner BRI-Eröffnungsrede an, dass es Chinas Traum ist, die Menschheit zu vereinen, zu kooperieren und das Wirtschaftswachstum mit anderen Ländern zu teilen sowie langfristig Win-Win-Möglichkeiten zu suchen. Xi Jinpings Erklärung mag zu ideologisch erscheinen und könnte von vielen westlichen Ländern als Fassade kritisiert werden, um Chinas eigenen nationalen Interessen zu dienen.

Mit Allianzen zu vereinigen

In einer sich veränderten Welt voller Unsicherheiten und Umbrüche scheint eine Länder übergreifende und langfristige Vision wichtiger denn je. Hier möchte China Zeichen setzen, bemüht sich um eine Stimme der Einheit und strebt Bündnisse mit dem Rest der Welt an. Immer mehr Länder erkennen, dass Chinas Entwicklung eng mit ihrer eigenen Entwicklung verbunden ist und verfolgen eine Kooperationsstrategie. Im November 2020 unterzeichneten China und weitere 14 Länder im asiatischpazifischen Raum eines der grössten Freihandelsabkommen der Geschichte, das 2,2 Milliarden Menschen und 30 Prozent der Weltwirtschaftsleistung umfasst. Diese «Regionale umfassende Wirtschaftspartnerschaft» (RCEP) wurde nach achtjährigen Verhandlungen finalisiert. Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea schlossen sich mit den zehn Mitgliedsstaaten des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN), darunter Indonesien, Malaysia, die Philippinen und Thailand, zusammen. Das gemeinsame BIP der Unterzeichnerstaaten belief sich 2019 auf 26,2 Billionen US-Dollar, was etwa 30 Prozent des globalen BIP entspricht. Das Abkommen wird fast 28 Prozent des Welthandels abdecken.

Ein Bündnis für die Zukunft zu schaffen

China fördert eine neue Art von internationalen Beziehungen. Es plant die Schaffung eines neuen Global-Governance-Systems und den Aufbau von Bündnissen mit gemeinsamer Zukunft. Betrachtet man China als Gegner, so kann seine Entwicklung als Bedrohung wahrgenommen werden und  Konfrontationen scheinen unvermeidlich. Betrachtet man China als Partner, kann die Zusammenarbeit als Chance begriffen werden. In einer Welt, in der Tendenzen globaler Multipolarität, des nationalen Protektionismus und der kulturellen Vielfalt voranschreiten und Transformation sowie strukturelle Anpassungen die Länder vor grossen Herausforderungen stellen, bleiben Achtsamkeit und Frieden der Ruf unserer Zeit. Kein Land kann die enormen Herausforderungen allein bewältigen. Die Zukunft jedes Landes liegt daher nur in gemeinsamen Händen.

Die China-Strategie der Schweiz

China als grösster Handelspartner

Seit 2010 ist China der grösste Handelspartner der Schweiz in Asien und damit weltweit der drittgrösste nach der EU und den Vereinigten Staaten. Ein bilaterales Freihandelsabkommen wurde 2013 in Peking unterzeichnet und trat am 1. Juli 2014 in Kraft. Die Schweiz ist einer der besten Partner Chinas in Europa. Die bilateralen Beziehungen wurden von einer «strategischen Partnerschaft» zu einer «innovativen strategischen Partnerschaft» aufgewertet und gelten bei den Chinesen als vorbildlich für eine chinesisch-europäische Zusammenarbeit. Zwei wesentliche Gründe lassen sich hierfür identifizieren: Erstens gibt es keinen historischen Konflikt zwischen den beiden Ländern; zweitens ist die Schweiz bei der Stärkung der bilateralen Zusammenarbeit mit China pragmatischer als andere europäische Länder.

Was können wir lernen?

Trotz oder gerade wegen der Unterschiede in Kultur und Gesellschaft, können wir einmal darauf blicken, wie anders China mit Herausforderungen und Unsicherheiten umgeht. Berücksichtigen wir die aktuelle Phase der Covid-19-Pandemie: Während in der westlichen Welt die individuelle Freiheit ein hohes Gut ist und Datenschutz eine wichtige Rolle spielt, besitzt der chinesische Staat die Hoheit über die Daten der Bevölkerung. Die Kombination von politischen Befugnissen, Ressourcen und technisch ausgereiften Lösungen machte die Durchsetzung von wesentlichen Elementen einer  Pandemiebekämpfung möglich: Viel testen, Kontaktverfolgung, Quarantäne. Persönlichkeitsrechte sind hier eher zweitrangig. China bekam damit das Coronavirus schnell unter Kontrolle, während viele westliche Staaten noch bezüglich geeigneter Massnahmen debattieren. Es wird nicht den einen richtigen Weg geben. Auch andere Länder wie Taiwan, Südkorea oder Neuseeland gingen einen erfolgreichen Weg.

Es steht ausser Frage, dass es unsere gesellschaftlichen Errungenschaften, Werte und eigene Identität zu wahren gilt. Dennoch stellt sich die Frage, was man voneinander lernen und wie man mit China zusammenarbeiten kann, um künftige Herausforderungen zu meistern. Hierfür ist es wichtig, unserer eigenen Strategie für eine kurz- und langfristige Zusammenarbeit mit China bewusst zu werden und diese zu entwickeln. Es gilt, die gemeinsamen Potenziale und Ziele zu identifizieren. Gleichzeitig wird China immer ein zäher Verhandlungspartner sein. Daher sollten wir als selbstbewusster und gleichberechtigter Partner gegenübertreten.

Tatsache ist, dass China grosse Pläne hat. Wir können uns dafür entscheiden, China als Bedrohung zu empfinden, die Pläne abzulehnen oder zu ignorieren. Andererseits können wir China auch als eine Chance begreifen und anstreben, das Land besser zu verstehen, mehr über seine lange und reiche Geschichte, seine vielfältigen und alten Kulturen sowie das spannende und komplexe Geschäftsumfeld zu erfahren.

Mit einer guten Strategie machen wir gerade den ersten Schritt. Einen so riesigen Akteur besser zu analysieren und zu begreifen, schafft ein tiefergehendes Verständnis und Potenzial. In Deutschland wurden zum Beispiel China-Kompetenzzentren eingerichtet, um die Auswirkungen Chinas auf die globale und nationale Wirtschaft zu beobachten und zu bewerten, so dass die Unternehmen viel schneller ihre eigene Politik und Strategie gegenüber China umsetzen können. China avanciert zu einem mächtigen, selbstbewussten und reifen «Drahtzieher», weswegen wir China ernst nehmen müssen, um gleichberechtigt zu interagieren. Hier setzen auch Initiativen im akademischen Umfeld in der Schweiz an, die das Verständnis der Globalisierung und Chinas Rolle schärfen sowie den Kursteilnehmern die Möglichkeit bieten, das Öko-System vor Ort kennenzulernen, wie zum Beispiel der Internationale Zukunftsworkshop an der FFHS.

(Erstpublikation in der Zeitschrift «UnternehmerZeitung 1/2 | 2021»)