Harald Brodbeck und Sabrina Ernst 04/03/2020

Industrie 4.0: Der nächste sinnvolle Schritt

Neun Jahre nach der Einführung des Begriffs Industrie 4.0 an der Hannover Messe 2011 sind bei KMUs erste Ermüdungserscheinungen zu erkennen. Zwar haben in der Schweiz 94 Prozent aller Industrieunternehmen mindestens ein Industrie 4.0-Projekt umgesetzt, in Arbeit oder geplant. Allerdings geben rund die Hälfte dieser Firmen gleichzeitig an, dass es Ihnen an einer klaren Strategie dafür fehlt. Hier zeigen wir auf, wie pragmatisch erste Erfolge erzielt werden können.

Entscheidungsträger in der Industrie werden nach wie vor geradezu überflutet von Angeboten zum Thema Industrie 4.0: Von Konferenzen über Beratungsdienstleistungen bis hin zu den äusserst heterogenen Angeboten einschlägiger Technologieanbieter. Die Nutzenversprechen sind zahlreich: Über Steigerung der Produktivität, Schaffung von Zusatznutzen für Kunden bis hin zur Erschliessung neuer Geschäftsfelder ist alles dabei. Insbesondere die aufgezeigten Visionen einer sich selbst organisierenden und optimierenden Produktion in einer Smart Factory sprengen jedoch den Rahmen der Möglichkeiten von KMUs. Der Kompromiss: Die neuen Technologien werden in einem klar abgegrenzten Pilotprojekt getestet. Dieses Vorgehen erweist sich jedoch als wenig erfolgversprechend: Nur 14 Prozent der Industrieunternehmen bezeichnen ihre aktuellen Initiativen als «erfolgreich», fast 60 Prozent geben an, dass sie mit der Skalierung kämpfen. Immer häufiger kommen daher Zweifel am konkreten Nutzen auf: «Ist Industrie 4.0 Meilenstein, Must-have oder Millionengrab?» wie Deloitte eine aktuelle Studie betitelte. Auch das Schweizer Suchinteresse bei Google zum Begriff Industrie 4.0 geht seit 2016 wieder zurück. Ist der «Hype» bereits wieder vorbei?

Der Paradigmen-Wechsel: Von Technologie sucht Anwendung» hin zu «Problem sucht Lösung»

Unserer Erfahrung nach ist der eigentliche Grund für das Scheitern hausgemacht: Zum einen werden Investitions- und Entwicklungsaufwendungen an Technologien statt an konkreten Anwendungsfällen ausgerichtet. Zum anderen fehlt die strategische Einordnung in das übrige Innovationsgeschehen der Unternehmen. Auch Industrie 4.0 und Digitalisierung sind strategische Innovationsfelder, die bewusst ausgewählt und danach mit den bekannten Methoden des Innovationsmanagements bearbeitet werden sollten.

Nötig ist somit ein Perspektivenwechsel von «Technologie sucht Anwendung» hin zu «Problem sucht Lösung»; dies basierend auf einer klaren (Innovations-)Strategie – und nicht opportunistisch getrieben.

Der realistische Weg in der Produktion:«Top-down» versus «Bottom-up»

Mit anderen Worten: Industrie 4.0 ist kein Selbstzweck – sie erfordert eine konsequente Orientierung an Problemstellungen und Zielgrössen der Produktion. Der «Grüne Wiese»-Ansatz funktioniert nicht, aber auch durch Nachrüsten von bestehenden Anlagen allein lässt sich eine vollautomatisierte und smarte Produktion nicht umsetzen. Erforderlich ist eine Langfriststrategie mit evolutionärer Entwicklung, die es ermöglicht, neue Technologien und Funktionen in bestehenden Teilbereichen bereits zu
nutzen, während neue Anlagen und Fabriken automatisiert, digitalisiert und vernetzt geplant werden.

Ein Stufenmodell (Abbildung links) hilft bei der schrittweisen Umsetzung von Industrie 4.0. Dabei wird der Fokus auf Einzelprojekte in konkreten Anwendungsfällen und nicht auf ganzheitliche Universallösungen gelegt. Wichtig ist, die «top-down»
entwickelte Vision – das «Big Picture» – nie aus den Augen zu verlieren, während dieses «bottom-up», Stufe für Stufe umgesetzt wird.

Beispiel «Intelligentes Presswerkzeug»: AUDI nutzt seit einigen Jahren Sensorik, um den Prozess im Werkzeug sichtbar zu machen, also zu erkennen, wie das Material fliesst und welche Kräfte auf das Blech einwirken. Die Daten zeigen, ob die Prozesse in den schmalen Fenstern bleiben, für die sie ausgelegt sind. Falls nicht, steuert eine Aktorik im Werkzeug die Verteilung der Kräfte selbsttätig um. Damit wird eine Präzision sichergestellt, die im Bereich von Hundertstelmillimetern liegt. Diese Lösung entspricht der Ebene 3 im Stufenmodell. Mit dem intelligenten Werkzeug 2.0 wird nun die Stufe 4 erreicht, nämlich die Regelung am Serienwerkzeug mit Datenübertragung in den Karosseriebau. Die für ein bestimmtes Blechteil charakteristischen Daten werden automatisiert erfasst und weitergeleitet. Auf Basis dieser Informationen werden die Karosseriebauanlagen automatisiert an die Blechteilcharakteristika angepasst.

Ein sinnvolles Vorgehen: Erst «lean», dann «smart»

Um das Thema systematisch anzugehen hat sich folgendes Vorgehen in zwei Phasen bewährt (siehe Abbildung unten):