ANDREA L. SABLONE, BORIS RICKEN 02/14/2022

Die digitale Reise von KMU – den Kunden als Ausgangs- und Endpunkt betrachten

Die Digitalisierung ist inzwischen ein strategisches Top-Thema für KMU-Verantwortliche. Es stellt sich aber die Frage, um welche Handlungsfelder es eigentlich geht und wie diese operativ zu analysieren und dann zu bearbeiten sind.

In einer kürzlichen Umfrage unter einigen Schweizer Industriefirmen gaben 55 Prozent aller Befragten an, dass für sie die Digitalisierung zu den drei wichtigsten strategischen Themen zählt. (1) Zudem sehen KMU die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Unternehmensstrategie in den nächsten zwei bis drei Jahren aufgrund der Digitalisierung anpassen müssen, bei über 50 Prozent und bei Grossunternehmen sind es sogar weit mehr als 60 Prozent. (2)

Die meisten Firmen haben digitale Projekte bereits in einem der nachfolgenden Handlungsfelder realisiert:

  • Die Optimierung und Automatisierung der firmeneigenen Prozesse: Zentrale Themen sind hier die Steigerung der eigenen Effizienz, eine Reduktion von Defekten oder eine Reduktion der Durchlaufzeiten. Typische digitale Projekte in diesem Zusammenhang sind die Modernisierung von ERP-Systemen, die Einführung von CRM-Applikationen zur Steigerung der Vertriebseffizienz oder erste Projekte im Kontext Industrie 4.0 / Smart Factory.
  • Aufbau einer digitalen Schnittstelle zum Kunden mit dem Ziel, die Kundenbindung zu steigern oder neue Verkaufskanäle zu etablieren: Typische Projekte sind die Einführung eines Webshops oder einer Kunden- und Serviceplattform.
  • Entwicklung neuer digitaler Produkte, Services und Geschäftsmodelle mit dem Ziel, neue Umsatzquellen zu erschliessen: Typische digitale Services sind beispielsweise die Zustandsüberwachung von Anlagenoder die sogenannten «Pay-per-use»-Modelle.

Technologischer Fokus

Der Ansatz von Schweizer KMU zur Digitalisierung, wenn sie keine «Digital Natives» sind, ist oft technologiegetrieben und produktbezogen. Wir argumentieren, dass dies direkt mit der DNA zahlreicher Schweizer Unternehmungen zu tun hat. Schweizer Qualität hat sprichwörtlichen Charakter. «Made in Switzerland» ist Synonym mit langlebigen, technisch hochstehenden und fachmännisch verarbeiteten Produkten – Eigenschaften, die über Jahrzehnte zu einer soliden Tradition gefestigt wurden. Dasselbe gilt ebenfalls für Dienstleistungen unterschiedlicher Art.

Technische Kompetenz und fachkundiges Können sind auch zentrale Bestandteile der schweizerischen Berufsbildung, ein bewährtes Modell, das zurecht internationale Anerkennung geniesst. Fachkräfte mit diesem technischen Fokus begegnet man auch auf Führungsetagen, insbesondere bei KMU. Sie tragen dieses Gedankengut weiter, dem die Schweizer Wirtschaft viel Gutes, nicht zuletzt zahlreiche Innovationen, verdankt.

Es darf dementsprechend nicht überraschen, dass auch Digitalisierung in Schweizer KMU als technisches Phänomen angegangen wird. Schliesslich ist Technologie in der Digitalisierung omnipräsent und stellt hohe Anforderungen an Wissen und Können, um sie sich zunutze zu machen. Wenn diese Sichtweise unternehmensweite Gültigkeit geniesst, dann kann sie einzelne Fachbereiche dazu bewegen, durch Digitalisierung eine Lösung auf fachspezifischen Herausforderungen zu suchen: in der Beschaffung, der Innenlogistik, der Entwicklung oder der Produktion.

Eng gekoppelt mit dem technologischen Fokus ist die unter Unternehmen der herstellenden Industrie verbreitete Haltung, ihr Produkt oder ihren Produktionsprozess ins Zentrum ihrer Überlegungen zu stellen. Dank des technologischen Fortschritts bieten sich Entwicklungsmöglichkeiten für die aktuellen Produkte und Prozesse an. Solche lassen sich aus einer Investitionslogik schneller begreifen und einfacher rechtfertigen als neue Angebote für aufkommende Kundenbedürfnisse. Versucht man, einen Business Case für letztere zu berechnen, so ist man mit schwer einschätzbaren Aussichten aufgrund fehlener Erfahrung und mangelnder Vergleichswerte konfrontiert. So bleibt man lieber bei den bewährten Angeboten und verbessert deren Leistung. Ob aber eine technische Verbesserung als Mehrwert oder als störende Veränderung wahrgenommen wird, bestimmt allein der Nutzer, nicht der Anbieter.

Ursache für ein Scheitern

Ein enger Fokus auf die eigenen Produkte und Prozesse ist umso folgenreicher, wenn es um länger dauernde Entwicklungen geht, denn in der Zeit bis zur Markteinführung können a) sich die Bedürfnisse der Kunden ändern, b) Konkurrenzunternehmen mit besseren beziehungsweise erheblich günstigeren Angeboten aufkommen oder c) neue Technologien die etablierten Marktverhältnisse erschüttern. Der innenorientierte Fokus verleitet die Unternehmung dazu, diese externen Veränderungen auszublenden. Dies bringt das Risiko mit sich, dass mühsam entwickelte Neuangebote am Markt erfolglos bleiben oder sogar das Kerngeschäft von Unternehmen durch digitale Substitute und Neueintritte erodiert.

Folgende drei Faktoren wirken sich verstärkend auf die Notwendigkeit der Orientierung an den aktuellen und potenziellen Kunden aus:

  • VUCA-Welt: Die KMU sehen sich heute einer hohen Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität ausgesetzt. Finanzkrise, Frankenschock, Corona-Krise oder die aktuellen Engpässe in der Lieferkette sind nur einige Beispiele für unvorhersehbare und dynamische Ereignisse, mit denen sich KMU in den letzten Jahren konfrontiert sahen.
  • Neue Markteintritte digitaler Unternehmen: Start-ups und Technologieunternehmen agieren sehr nah am Kunden, sammeln Daten zu deren Nutzerverhalten und richten ihr Geschäftsmodell agil auf diese aus. Sie werden durch eine grosse Menge an Risikokapital unterstützt, das beständig auf der Suche nach Opportunitäten ist, um in etablierte Märkte mit digitalen Lösungen einzudringen und einen Teil der Konsumentenrenten abzuschöpfen.
  • Neue, durch die Digitalisierung ermöglichte Geschäftsmodelle wie digitale Marktplätze für Industriegüter: Diese transformieren den traditionellen Absatzkanal und bringen das Risiko, dass KMU von ihren Kunden abgeschnitten werden.

Die fehlende Ausrichtung auf den Kunden befällt auch auf Digitalisierung abgestützte Vorhaben. Wenn überhaupt, sind sie sogar stärker davon betroffen, weil der Unternehmung dazu die Erfahrungswerte fehlen. Die technologiegetriebene Entwicklung einer digitalen App ohne Einbezug des Kunden bringt das entmutigende Ergebnis niedriger Nutzerzahlen.

 

Anmerkungen

(1) Industrie 2025: Umfrage Digitalstrategie (2021)
(2) Peter, Mark (Hrsg.), 2021: Strategieentwicklung im digitalen Zeitalter – Planung & Umsetzung der Digitalen Transformation

Dr.oec.publ. Boris Ricken

ist Head of Manufacturing bei der AWK Group AG. Er berät Schweizer Industriefirmen in den zahlreichen Herausforderungen der Digitalisierung.