Andrea L. Sablone, Harald Brodbeck 26.09.2022

Unternehmensvision: Attitüde statt Plattitüde

Eine schlagkräftige Vision ist individuell auf das jeweilige Unternehmen zu entwickeln und sollte in der Kommunikation frei sein von Plattitüden. Der Beitrag beleuchtet die elementaren Kerngedanken, die bei der Erarbeitung einer Vision beachtet werden sollten.

Die Vorstellung, dass Organisationen, Unternehmen und selbst ganze Staaten eine Zukunftsvorstellung benötigen, die ihre Entwicklung weit über das operative Tagesgeschäft hinaus leitet, erlangte in den Achtzigerjahren des letzten Jahr­hunderts grosse Beliebtheit. Zwar gab es berühmte Gegner wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt – unvergesslich sein Zitat: «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen» – und glücklose Verfechter wie Edzard Reuter, der als Vorstandsvorsit­zender die damalige Daimler­-Benz AG durch Diversifikation zum «integrierten Technologiekonzern» entwickeln wollte.

Visionen als Instrument

Trotzdem konnten sich Visionen eta­blieren und zum festen Bestandteil des be­triebswirtschaftlichen Rüstzeugs werden. Was also ursprünglich aus vereinzelten brillanten Geistern oder uner schrockenen Seelen hervorging – man denke an Henry Ford, Estée Lauder, Steve Jobs und Elon Musk aus der Wirtschaft oder Mahatma Gandhi beziehungsweise Martin Luther King in der Politik –, wird inzwischen von jeder Organisation erwartet. Geschäfts­führer auch von KMU stehen somit vor der Herausforderung, eine Erklärung über die langfristige Zukunft der Organi­sation zu liefern, ob ihnen ein solcher Wurf liegt oder nicht. Wie sollten sie da­bei am besten vorgehen?

Vier Kerngedanken

Wir fokussieren im Folgenden auf vier Kerngedanken, die bei der Erarbeitung einer Vision beachtet werden sollten.

1. Die Gefahr auswechselbarer Plattitüden

In ihrer Ursprungsbedeutung hat Vision mit Vorstellungsvermögen, mit schöpfe­rischer Kraft, mit der intuitiven Seite des Denkens zu tun. Allerdings ist die Ent­wicklung einer kreativen Idee für eine Vision «auf Knopfdruck» äusserst an­spruchsvoll, daher lockt die Versuchung, den Weg des geringsten Widerstands zu beschreiten. Dieser zeigt sich typischer­weise in drei Ausprägungen:

Sich bewährter «Klassiker» bedienen: Aussagen wie: «Der Marktführer in ausgewählten Segmenten», «Die Nummer eins oder zwei in der Branche» klingen gut. Schliesslich waren solche führerschaftsori­entierten Visionen auch bei namhaften Un­ternehmen wegweisend. Berühmt dafür wurde General Electric unter der Führung des charismatischen Jack Welch, aber auch Walmart und Heinz folgten dieser Logik.

Problematisch wird es, wenn hinter der Aussage keine ernsthafte Absicht steckt. Wenn man lediglich ein weit entferntes Ziel setzen will, das einen nicht zu fest im Alltag stört, kann die lange Zeitspanne zu einer immerwährenden Entschuldigung werden, noch nicht so weit gekommen zu sein. Wenn das in der Organisation deut­lich wird, setzt Zynismus ein, der Killer jeder intrinsischen Motivation.

Das Selbstverständliche in einer schmucken Art formulieren: Wenn eine Bank bekundet, dass sie «die fi­nanziellen Bedürfnisse der Kunden in­novativ und nachhaltig befriedigt» oder «die zukunftsträchtige Drehscheibe für Finanztransaktionen» sein will, formu­liert sie mit der Vision aus Sicht der Kun­den reine Selbstverständlichkeiten. Was sollte sie denn sonst tun? Ihr Angebot als rückständig und von kurzer Dauer gestal­ten? Oder was für Kundenbedürfnisse sollte sie sonst befriedigen als die finan­ziellen? Sie ist eben eine Bank! Dasselbe gilt für zahlreiche Organisationen, wie für den Chemiekonzern BASF, der fest­hält: «Wir sind ‹The Chemical Company› und arbeiten erfolgreich auf allen wich­tigen Märkten», oder Pharmaunterneh­mungen, die versprechen, die Lebens­qualität der Patienten zu verbessern: Sie alle adressieren Basisanforderungen, die wir als Kunden schlichtweg erwarten und bei deren Nichterfüllung wir maximal enttäuscht wären.

Somit ist zwar die Aufgabe «Vision Sta­tement entwickeln» erledigt, dessen Wir­kung bleibt indes bescheiden: Diese For­mulierungen erzeugen keinerlei Strahl­kraft – weder für die Kunden noch für die eigenen Mitarbeitenden.

Löbliche Absichten kundtun: Visio­nen wie «Die beste Leistung – für Kunden, Kaufleute, Mitarbeiter» (Rewe) drücken zwar gute Absichten aus, bieten jedoch kaum Orientierung für das Alltagshan­deln des Unternehmens. Solche Aussagen können dennoch relevant und sinnstif­tend sein, wenn sie einen deutlichen Wandel in der grundsätzlichen Ausrich­tung des Unternehmens einleiten, zum Beispiel weg von der reinen profitmaxi­mierenden Shareholder­ zu einer umfas­senden Stakeholder­-Orientierung.

2. Der fehlgeleitete Drang einer breiten Beteiligung

Alle Visionen eint die Absicht, die Kräfte möglichst vieler Mitarbeitender – im Idealfall aller – zu bündeln, um die Ener­gie zu entfachen, die zur Erreichung eines besonders anspruchsvollen Zielserforderlich ist. Wie lässt sich eine sol­che Sogwirkung erzeugen? Eine Denk­schule der Organisationsentwicklung drängt in Richtung einer basisdemokra­tischen Erarbeitung der Vision. Diese basiert auf der Annahme, dass «Owner­ship» auch ein entsprechendes «Commit­ment» erzeugt.

Allerdings ist die Suche nach einem Konsens in Gruppen schwierig – und der Schwierigkeitsgrad wächst mit zu­nehmender Anzahl der Beteiligten über­proportional. Zu unterschiedlich sind die anfänglichen Wissensstände, die Kom­petenzen, die Fähigkeiten, die Interes­sen lagen und auch die Denkweisen der Beteiligten. Dazu kommen unterschied­lich starke Persönlichkeiten und der unumgängliche Einfluss bestehender Machtgefälle. Häufig ist auch die Auf­gabe so offen formuliert, dass ein Teil sich (zu) stark an der aktuellen Realität orientiert, während andere die Aus­gangslage komplett ausblenden und sich somit schnell im Bereich des Utopischen befinden. Das Risiko, keinen Konsens zu finden, steigt.

Damit am Schluss dieser – meist un­ter Zeitdruck stattfindenden – Übungen doch noch ein Ergebnis vorliegt, sind zwei unterschiedliche Verhaltensmuster zu beobachten:

Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Die Gruppe ei­nigt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Folge: Die resultierende Vision hat wiederum viel zu wenig Strahlkraft: Sie «stört» nicht, motiviert aber auch niemanden. Gunter Dueck beschreibt dieses Phänomen in seinem Bestseller «Schwarmdumm» sehr eindrücklich.

Durchsetzung einer Minderheit: Eine Person oder eine Teilgruppe setzt sich gegen den Widerstand der anderen Be­teiligten durch, womit der gut gemeinte basisdemokratische Prozess genau das Gegenteil bewirkt: Die Vision wird von den «Verlierern» nicht angenommen und im schlimmsten Fall sogar torpediert.

3. Vier Eigenschaften einer Vision mit Biss

Was zeichnet nun eine Vision aus, die deutlich mehr wert ist als das Papier, auf dem sie geschrieben steht? Wir unter­scheiden vier Kerneigenschaften:

Die Vision ist richtungsweisend, relevant und sinnstiftend. Sie soll sowohl den Mitarbeitenden als auch den externen Partnern kurz und bündig ver­mitteln, in welche Richtung sich die Or­ganisation entwickeln will. Dabei ist die Frage nach dem «Warum», nicht nach dem «Was» und «Wie» zu beantworten.

Die Vision wirkt entscheidungsunterstützend und handlungsanleitend. Immer dann, wenn mehrere Hand­lungsoptionen vorliegen oder Spielraum für Entwicklung besteht, soll die Vision eine Entscheidung zumindest massgeb­lich erleichtern. Dies gilt für strategische Entscheidungen (zum Beispiel bei der Definition von Fokusfeldern für den Inno­vationsprozess) ebenso wie für das All­tagsverhalten der Mitarbeitenden. Die Vision von Starbucks lautet: «Wir sind der dritte Aufenthaltsort zwischen Arbeits­platz und zuhause.» Damit wird sehr schnell klar, warum die Restaurants mit Sofas ausgestattet sind und das Personal uns auch mehrere Stunden nach der Be­stellung des ersten Espressos nicht beim konzentrierten Arbeiten am Laptop stört.

Die Vision ist motivierend. Bei jeder Vision stellt sich die Frage, wieso es sich lohnt, sie zu erreichen, was sich ändern wird, wenn wir als Organisation gemein­sam an ihrer Umsetzung arbeiten. Dies be­dingt, dass der angestrebte Zustand nicht nur sachlich formuliert, sondern gleich­zeitig auch emotional aufgeladen wird. Ein gutes Beispiel liefert die Deutsche gesetzliche Unfallversicherung: «Unsere Vision Zero: Eine Welt, in der Arbeit sicher und gesund ist. Eine Welt ohne tödliche und schwere Arbeitsunfälle.»

Die Vision ist leicht kommunizierbar. Eine Vision ist dann gut formuliert, wenn sie den «Grossmutter­-Test» besteht: Sie muss in 30 Sekunden erklärt und ver­standen worden sein. Ein gutes Beispiel liefert Sonova: «Unsere Vision ist einfach: eine Welt, in der es für jeden Hörverlust eine Lösung gibt und in der alle Menschen gleichermassen die Freude des Hörens erfahren können.»

4. Gemeinsame Erarbeitung versus gemeinsame Umsetzung

Der Wunsch nach einer Veränderung, nach der Realisation eines noch nie zuvor versuchten Unterfangens stammt zumeist von wenigen, oft sogar einzelnen Men­schen. Im Gegensatz dazu bedingt die wirkungsvolle Umsetzung der Vision, dass möglichst viele Organisationsmit­glieder dafür verantwortlich zeichnen. Zwei Komponenten lassen die schöpfe­rische Vorstellungskraft weniger zu einer mitreissenden Bewegung aller werden: zum einen die Anziehungskraft der Vi­sion selbst, welche die Sehnsucht nach ih­rer Umsetzung weckt, und zum anderen die Ausstrahlung der Personen, welche die Vision verkörpern und zu Vorbildern vieler werden.

Die Vorbildfunktion verpflichtet: Füh­rungskräfte können sich Entscheidungen und Handlungen, die gegenläufig zur Vision sind, nicht erlauben – ansonsten verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit, wo­mit auch die Verpflichtung der Mitarbei­tenden zur Umsetzung der Vision hinfäl­lig würde.

Auf der anderen Seite benötigen die Mitarbeitenden bei der Umsetzung der Vision ausreichenden Spielraum für Ex­perimente und Innovation. Dies bedingt Führungsmechanismen jenseits von Kon­trolle und Prozessbeschreibungen: ein­deutige Ziele, aber Freiheiten bei der Wahl der Wege zur Zielerreichung.

Fazit

Eine schlagkräftige Vision zeichnet ein begeisterndes, identitätsstiftendes Bild der Zukunft, massgeschneidert auf das jeweilige Unternehmen. Die häufig anzu­treffenden austauschbaren Plattitüden sind wirkungslos oder werden gar mit leichtem Zynismus belächelt. Bei der Ent­wicklung der Vision sollte man sich vom Anspruch eines möglichst breit abge­stützten Vorgehensansatzes lösen. Dem­gegenüber ist eine breite Verantwor­tungsübernahme für deren Umsetzung erfolgsentscheidend.

Ausserdem gilt: Auch Visionen haben in der Regel eine Halbwertszeit und be­dürfen einer Überarbeitung, weil sie ent­weder erreicht werden oder aufgrund veränderter externer Umstände ihre Be­deutung verlieren. Den Nutzen von Visi­onen bringt ein japanisches Sprichwort auf den Punkt: «Vision without action is a daydream. Action without vision is a nightmare.»

(Erstpublikation: KMU-Magazin Nr. 7/8, Juli/August 2022)