Dr. Robert Montau 28.03.2023

Variantenbildung für cyber-physische Produkte

Moderne cyberphysische Produkte basieren auf einem Zusammenspiel von realen und digitalen Komponenten (cyber-physical), deren Komplexität und Vernetzung stetig zunehmen. Seit dem Einzug von Industrie 4.0 versuchen Unternehmen, Wettbewerbsvorteile durch cyberphysische Produkte mit digitalem Zwilling zu erzielen. Gleichzeitig fordert der Trend zu personalisierten Produkten breitere und variantenreiche Produktportfolios, um die vielfältigen Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Die Kombination beider Optimierungsrichtungen stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen, die mit geeigneten Digitalisierungsinitiativen gemeistert werden können.

Im Zuge von Industrie 4.0 erhalten Produkte vermehrt digitale Fähigkeiten mit einer datentechnischen Vernetzung. Solche intelligenten, cyber-physischen Systeme (CPS) bestehen aus drei Kernelementen:

  • physische Komponenten (mechanisch, elektronisch …),
  • smarte Komponenten (Sensoren, Aktoren, Mikroprozessoren, Analytik),
  • Connectivity (Datenverbindung, zum Beispiel in eine Cloud).

Produkte mit neuen digitalen Fähigkeiten

CPS-Produkte sind somit nicht nur mechanisch und vollständig in 3D modelliert, sondern haben mechatronischen Charakter, verfügen über Intelligenz und können über eine Datenverbindung kommunizieren. Hierdurch werden neue digitale Fähigkeiten ermöglicht, beispielsweise um etwas ortsunabhängig zu überwachen, zu kontrollieren, visuell zu unterstützen und statistisch zu analysieren, ohne physisch beim Produkt zu sein. Darüber hinaus lassen sich Produkte weiter optimieren und automatisieren. Anstelle der bisherigen Produktlieferung als Basis der Rechnungsstellung rückt die Wirkung eines Produkts in den Fokus von Verrechnungsmodellen. Unternehmen entwickeln dafür zunehmend digitale Angebote und Geschäftsmodelle. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das «Power-by-the-hour»-Modell des britischen Triebwerkproduzenten Rolls-Royce. Dabei werden Hersteller nicht mehr dazu verpflichtet, eine Turbine zu kaufen, sondern bezahlen anstatt dessen für die Betriebsstunden.

Möglich werden solche leistungsfähigen CPS-Produkte einerseits durch einen höheren Software- und Elektronikanteil gegenüber der Mechanik und andererseits durch eine engere Verzahnung der Ingenieursdisziplinen. Durch geschickte Kombination mechatronischer Wirkprinzipien entstehen immer leistungsfähigere Systeme, womit auch eine grössere Produktkomplexität einhergeht.

Stärkere Vernetzung von Ingenieursdisziplinen

Voraussetzung für die zielgerichtete Entwicklung leistungsfähiger Produkte ist die systematische Klärung der Bedürfnisse und Zielsetzungen in Form präzise formulierter Anforderungen. Im Anschluss kann eine Funktionsanalyse erfolgen, um ausgehend von der Gesamtfunktion die einzelnen Soll-Funktionen zu ermitteln. Anforderungen und Soll-Funktionen bilden dann die zentrale Vorgabe und wirken als Bindeglied für die Lösungsfindung über verschiedene Abteilungen, weshalb sie zur interdisziplinären Kollaboration auf Enterprise IT-Ebene (zum Beispiel in PLM oder ERP) benötigt werden.

Auch für eine moderne, systemgetriebene Produktentwicklung nimmt die Mechanik noch immer eine zentrale Rolle ein, da deren Artikelobjekte den Einstiegspunkt für die Folgeschritte im Downstream-Prozess (E-BOM, M-BOM, BOP …) bilden und als Anker für die Datenstrukturen fungieren. Zwar nimmt der Anteil der Mechanik an der Wertschöpfung immer weiter ab, aber die Kostenverursachung eines realen Bauteils bei der Beschaffung, Fertigung oder Verschrottung wird den Aufwand zum digitalen Kopieren oder Löschen von Software immer übertreffen.

In Bezug auf die Digitalisierung hat der M-CAD Bereich schon immer eine Vorreiterrolle eingenommen und mit Einzug der 3D Assembly-Technologie wurden tiefe Integrationen benötigt, was die PLM-Evolution massgeblich beeinflusst hat. Die Zeiten der isolierten Betrachtung eines Funktionsbereichs (zum Beispiel CAD oder CAE) sind längst vorüber, als noch das «best-in-class»-System für eine Aufgabe im Vordergrund stand. Obwohl ein bestimmter Aufgabenbereich «mission critical» sein kann, ist er am Ende in einen Gesamtprozess eingebettet und neben einem wichtigen Feature X muss auch die Anbindung an Folgesysteme über eine Schnittstelle Y betrachtet werden. Wie nützlich wäre die beste CAD-Software in einem Unternehmen mit hochgradig variantenreichen Produkten, wenn die CAx-Integration keine Variantenfunktionalität unterstützt?

Für die IT-technische Anbindung einer Fachdisziplin (zum Beispiel die Mechanik-Entwicklung mit M-CAD) sind aber nicht nur deren Bedürfnisse zu berücksichtigen, sondern auch die auf der interdisziplinären Kollaborationsebene. Beispielweise war die Produktgeometrie über viele Jahre nur den CAD-Usern vorbehalten und andere Mitarbeiter hatten keine Möglichkeit, sich eigenständig zu beauskunften. Möglich wurde dies durch den Einzug von 3D-Visualisierungstechnologien auf Basis von Neutralformaten wie JT oder 3D-PDF. Damit können auch andere Mitarbeiter auf die Produktgeometrie zugreifen und eine 3D-Visualisierung kann zum Beispiel Arbeitsschritte in der Elektronik oder die Software-Entwicklung erleichtern.

Im Gegensatz zur Mechanik wird in der Elektronik nicht frei von Scratch entworfen, sondern die Elektroschemata entstehen durch Auswahl von Komponenten aus einer Bibliothek, die über funktionale Verbindungen zwischen Ports verknüpft werden. Die Bibliothek der Elektronik-Komponenten ist somit eine wichtige Voraussetzung, die wegen der End-of-Life (EOL)-Abkündigungen zudem aktuell gehalten werden muss. Für Bauraum-Analysen zu Kollisionen werden häufig E-CAD/M-CAD-Kopplungen eingesetzt und Mitarbeiter ohne E-CAD können 2D/3D-Visualisierungen zu Elektronikschemas und PCBs nutzen.

In der Software-Entwicklung herrscht eine noch grössere Dynamik infolge der Abkehr vom sequenziellen Wasserfallprozess hin zum agilen Vorgehen, was kürzere Software-Entwicklungszeiten ermöglicht. Für das Objektmanagement der Software-Entwicklung sind neben Source Code, Build und Compiler Konfiguration auch die zugehörigen Test Cases relevant, die aus der Anforderungsstruktur abgeleitet werden.

Mechatronische Produkte und Module werden nach dem VModell entwickelt und beinhalten eine Kombination von Systemen aus Mechanik, Elektronik und Software. Systeme stellen die oberste Einflussebene externer Applikationen dar, deren Unterstruktur synchronisiert werden muss.

Da mechatronische Produkte aus der Kombination von Lösungen mehrerer Ingenieursdisziplinen entstehen, braucht es zu Beginn ein mechatronisches Konzept, woraus die obere Ebene der Produktstruktur auf Enterprise IT-Ebene resultiert. Unterhalb der Systemebene wird dann in den Autorenapplikationen gearbeitet, wobei sich zur angedachten Lösung einer Soll-Funktion eine andere Disziplin als sinnvoller herausstellen kann (zum Beispiel Software anstelle Elektronik). Für die Integration in die Enterprise IT-Ebene resultiert daraus die Notwendigkeit einer bidirektionalen Interoperabilität.

Mehr Variabilität und personalisierte Produkte

Nachdem ein Produkt erfolgreich am Markt etabliert wurde, stellt sich die Frage, wie mit minimalem Zusatzaufwand eine breitere Abdeckung von Kundenanforderungen erreicht werden kann. Analog zum Prinzip von Lego-Bausteinen versucht man, bestehende Lösungen wiederzuverwenden und durch Variation einiger weniger Komponenten ein möglichst breites Anforderungsspektrum abzudecken. Zur Definition aller möglichen Kombinationen wird die Produktstruktur mit den wiederverwendeten Gleichteilen auf eine 150-Prozent Struktur erweitert, die verschiedene Variantenpositionen beinhaltet und Variationskonzepte unterstützt. Mit Strukturvarianten lässt sich zum Beispiel eine Sonderausstattung (Kann-Variante) abbilden. Teilevarianten bieten sich für unterschiedliche Ausprägungen einer Komponente an (zum Beispiel Leistungsstufen eines Antriebs), wovon immer genau eine ausgewählt werden muss (Muss-Variante). Sobald sämtliche Auswahlentscheidungen getroffen sind, kann die 150-Prozent Struktur auf 100 Prozent konfiguriert werden. Als Ergebnis wird entweder nur die gefilterte Struktur angezeigt oder für sämtliche generischen Strukturknoten werden konkrete Artikel generiert, woraus eine spezifische Struktur ausgeleitet wird.

Damit ein generiertes Variantenprodukt am Ende zusammenpasst und funktioniert, ist vor der Konfiguration ein «Variant Engineering» erforderlich, um sämtliche Optionen und Abhängigkeiten in der kombinatorischen Vielfalt zu überprüfen und abzusichern. Dieses «Variant Engineering» muss sowohl auf Enterprise IT-Ebene als auch in M-CAD, E-CAD und ALM ausgeführt werden, weshalb alle Systeme und deren Integrationen Varianten-Funktionalität benötigen. Mechanik und Elektronik sind hinsichtlich Variabilität relativ ähnlich, in der Software wird dagegen oft der volle Code-Umfang inkludiert und die Variabilität über Fallunterscheidungen in der Ablauflogik gesteuert. Für den Downstream-Prozess ist es hilfreich, wenn sich der Kontext einer BOM-Konfiguration auch auf kongruente Strukturen wie den Arbeitsplan (BOP) auswirkt und Operationen von auskonfigurierten Komponenten automatisch wegfallen.

Dies verdeutlicht, warum der Variantenkontext über alle beteiligten Systeme benötigt wird. Oftmals wird nur an die finale Konfiguration gedacht und dabei vergessen, dass vor diesem Schritt eine initiale Absicherung der möglichen Varianten benötigt wird und die Produktstruktur «lebt», da über die Zeit permanent Änderungen und EOL-Abkündigungen eintreten.

Fazit

Industrie 4.0 ermöglicht intelligente cyberphysische Produkte, die mit einem digitalen Zwilling kommunizieren, wodurch die Produktkomplexität erheblich steigt und eine leistungsfähige Enterprise IT-Architektur erforderlich wird. Hiernach benötigt der nächste Schritt zur Variantenbildung in mechatronischen Produktstrukturen eine zweckmässige Methodik und durchgängig digitalisierte Variantenprozesse über alle beteiligten Systeme. Dies ermöglicht eine breitere Abdeckung von Marktanforderungen mit minimalem Aufwand, wodurch sich weitere Marktanteile und neue Wachstumspotenziale erschliessen lassen.

(Erstpublikation: Prestige Business Nr. 01/2023, Februar)