Dr. Irene Pill 05.05.2023

Der heisse Brei — warum andere anders sprechen

Wie oft ist es Ihnen schon passiert, dass Sie das Gefühl hatten, Ihr Gesprächspartner versteht Sie nicht, spielt nicht mit offenen Karten oder redet zeitraubend und nervtötend um den heissen Brei herum? Warum aber spricht man in anderen Kulturen anders?

Irritierende Kommunikationssituationen können einen bereits am Frühstückstisch an Grenzen bringen. Umso schwerwiegender sind sie bei der Arbeit und erst recht, wenn man als Expatriate im Ausland unter besonderem Erfolgsdruck steht.

«Die spinnen, die Römer!»

Wohl jeder kennt den Lieblingsspruch des Galliers Obelix, der sich zusammen mit Asterix, neben seiner über alles geliebten Jagd auf Wildschweine, bevorzugt in Konflikte mit Römern begibt. Aus der Perspektive von Obelix ist die Sache klar: «Römer» sind anders, und da sie nicht so sind wie er, reden sie komisch oder spinnen gar, und man muss deshalb spezielle, schlagkräftige Lösungswege ins Auge fassen.

Im interkulturellen Kontext besteht genau darin die Problematik: Man geht von sich aus, berücksichtigt den kulturellen Hintergrund des Gegenübers nicht und interpretiert und bewertet die befremdliche Andersartigkeit mit den eigenen Werten. Ist man gar der Meinung, dass nur die eigenen Werte richtig sind, und wertet man demzufolge ab, sind Kommunikationsschwierigkeiten die logische Folge. Wenn also Werte beider Interaktionspartner grundlegend differieren, wenn Verhalten fehlgedeutet wird, sind Reaktionen wie Verunsicherung, Genervtheit, Enttäuschung und Stress nahezu unvermeidlich, und eine Misstrauensspirale baut sich auf. Die Krux dabei ist, dass man bei Konflikten weniger an verschiedenartige Kulturprägungen und Kommunikationsmuster denkt, vielmehr werden die Ursachen dem anderen angekreidet: Das Gegenüber verhält sich einfach nicht «normal».

Denken, Sprache und Kultur sind eng miteinander verflochten

Sprachprobleme sind ein Grund für Barrieren in der interkulturellen Kommunikation, doch treten interkulturelle Verständigungsstörungen auch dann auf, wenn beide Gesprächspartner die Landessprache sprechen, das Gesagte jedoch wegen ihres jeweils eigenen kulturellen Hintergrunds unterschiedlich entschlüsseln. So genügt es beispielsweise nicht, Expatriates vor einer Auslandsentsendung einzig einen Sprachkurs anzubieten.

Agieren in andersartigen Kulturräumen stellt besonders hohe Anforderungen an das Kommunikationsvermögen. Eine ganze Palette des Aneinandervorbeisprechens kann sich da auftun: um den heissen Brei herumreden, (vermeintlich) nicht mit offenen Karten spielen, einfach nicht mit der Sprache herausrücken, Mails ignorieren, gefühlt unendlich langsam sein, sich hinter dem Team verstecken und sich alles aus der Nase ziehen lassen. «Logische», freilich nicht unbedingt immer zielführende Reaktionen können sein: Man wird ungeduldig, ist gereizt, schaltet auf Durchzug und betrachtet den Dialog als pure Zeitverschwendung.

Warum aber kommen manche nicht in die Puschen? Was steckt hinter solchen Kommunikationskonflikten? Haben denn die Gesprächspartner schlichtweg keine Ahnung, wie man den Job richtig macht? Sind sie unwillig oder gar böswillig? Oder gibt es etwa plausiblere Erklärungen und Lösungsmöglichkeiten für interkulturelle Probleme?

Werte als Schlüssel zum Verständnis

Wir haben gesehen: Kulturelle Vielfalt birgt Potenzial für interkulturelle Spannungen. Doch eines müssen wir uns unbedingt vor Augen halten: Ob im Inland oder im Ausland sollte man selbstverständlich immer den einzelnen Menschen im Blick haben und ihn nicht rein auf seine Herkunft reduzieren. «Den» Chinesen, «den» US-Amerikaner etc. gibt es nicht: Wir haben es mit Individuen zu tun, die allerdings auch stets kulturgeprägt sind. Das bedeutet: Kultur erklärt zwar nicht alles, aber einiges.

Will man das zwischenmenschliche Einmaleins beherrschen und andere Kulturen verstehen, muss man genau hinschauen und die mannigfaltigen Werte in den Blick nehmen. Werte gelten als der Kern von Kulturen, sie sind der Schlüssel zum Verständnis, gerade auch zum Verstehen von Kommunikationsunterschieden. Sie sind Orientierungen, die innerhalb von sozialen Systemen für wichtig, richtig und erstrebenswert angesehen und folgerichtig respektiert und gelebt werden. Werte beeinflussen somit unser Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln. Damit wird klar: Zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen sind Kenntnisse in den Werten und Grundmustern der eigenen wie fremder Kulturen eine unerlässliche Basis.

«Das ist nur die Spitze des Eisbergs»

Das weitverbreitete Eisbergmodell ist gleichermassen beim näheren Betrachten von Kulturen ausgesprochen aufschlussreich. Es veranschaulicht uns die Bedeutung von Werten und hilft uns zu erkennen, wie Kulturen funktionieren. Wie sollte es auch anders sein: Wir schauen bei einem Kultur-Eisberg zuerst einmal auf die über dem Wasser liegende sichtbare Spitze. So fallen uns bei unvertrauten Kulturen zunächst unterschiedliche Kleidung, Haartracht, Umgangsformen und ungewohntes Essen auf.

Rund 80% des Kultur-Eisbergs allerdings, und damit der grösste Teil der Werte und Normen, liegen unter dem Wasserspiegel. Dieser untere Bereich des Eisbergs ist für uns nicht erkennbar und erschliesst sich nicht automatisch. Veränderungen geschehen da wesentlich langsamer als oberhalb des Wassers. Die hier verborgenen Grundannahmen können fundamental von den eigenen Einstellungen differieren und die Kommunikation herausfordernd gestalten. Es geht beispielsweise darum, auf welche Weise man Beziehungen zwischen Menschen gestaltet: Hat der Einzelne oder die Gruppe Vorrang, ist eher die Person oder doch mehr die Sache wichtig, und welchen Stellenwert nimmt die Familie ein? Auch die unterschiedliche Orientierung zum Faktor Zeit strapaziert so manche Vorstellung von einem guten Dialog: Wie bedeutsam ist Pünktlichkeit? Geht es um lange Vorausplanung, Termine und strikt eingehaltene Ablaufpläne oder bevorzugt man flexible Zeiteinteilung und Spontaneität? Wie sieht die Handlungsorientierung aus: Ist das Sein, das Leben im Hier und Jetzt, oder das Tun entscheidend?

Treibt nun ein Kultur-Eisberg auf einen anderen zu, von dem ebenfalls nur die Spitze zu erspähen ist, dann geschieht Folgendes: Die grundlegenden Werte kollidieren, ohne dass an der Wasseroberfläche die Ursache dafür zu erkennen wäre. Mit diesem Bild wird offensichtlich, wie schnell und leicht ohne ersichtlichen Auslöser interkulturelle Begegnungen zu «Zusammenstössen» und damit zu fundamentalen Missverständnissen führen können. Und es zeigt deutlich: Man sollte nicht nur oberflächlich die Spitze des Eisbergs im Auge haben, sondern auch seine Aufmerksamkeit auf die verborgenen Kultureinheiten lenken.

Harmonie und Gesicht – Handlungsmaximen für gelingende Kommunikation

Unterschiedliche Wertvorstellungen und obendrein andersartige Auffassungen, wie Werte gelebt werden, bergen folglich Potenzial für Komplikationen und erschweren die Kommunikation. Bei Kommunikationsprozessen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen sind also die unsichtbaren Teile des Kultur-Eisbergs von enormer Relevanz. Greifen wir aus der Fülle zwei zentrale handlungsleitende Wertehaltungen heraus.

Besonders kommunikationsprägend sind die Werte der Harmonie und des Gesichts, denen in asiatischen und arabischen Kulturen eine hohe Bedeutung zukommt. Zwischenmenschliche Harmonie ist dort essenziell zur sozialen Einbindung des Individuums in das gesellschaftliche Gefüge und zur Aufrechterhaltung der natürlichen Ordnung. Dieses Konzept kann bei westlichen Dialogpartnern zu Fehldeutungen und gravierenden Irritationen führen, wenn beispielsweise eine chinesische Mitarbeiterin, die gerade einen schwerwiegenden Fehler begangen hat, als Reaktion darauf breit lächelt oder gar lacht. Auch wenn man auf eine Frage womöglich eine falsche Antwort erhält, muss es sich keineswegs um eine bewusste Unehrlichkeit oder um ein gewolltes Irreführen handeln, vielmehr kommt hier ebenso das Bestreben zur Geltung, Harmonie und Gesicht zu wahren. Dies hat zur Folge, dass ein untergeordneter Mitarbeiter der Führungskraft nicht widerspricht; eine besserwisserische Haltung würde dem Höflichkeits- und Hierarchieprinzip diametral entgegenlaufen und die Harmonie empfindlich stören.

Beim Konzept des Gesichts geht es um das Bild nach aussen, die Erhaltung des Selbstwerts und der persönlichen Würde. Die persönliche Integrität ist auch in Bezug auf die soziale Einbindung von hoher Bedeutung. Verbaler und nichtsprachlicher Dialog dienen dazu, das soziale Selbst- und Fremdbild zumindest zu halten, wenn nicht gar zu verbessern. Es besteht die Möglichkeit, das Ansehen durch ausgesuchte Aufmerksamkeit, Beziehungsorientierung und Höflichkeitsbezeugungen zu geben, zu wahren und gar zu steigern. Es besteht aber auch die Gefahr, das Gesicht zu beschädigen und zu rauben, was erhebliche Konsequenzen nach sich zieht: Beide Kommunikationspartner verlieren ihre Würde und den Respekt. Der damit einhergehende Macht und Autoritätsverlust hat zur Folge, dass Gespräche abgebrochen werden oder die Beziehung ganz beendet wird.

Um Harmonie und Gesichtswahrung zu garantieren bzw. nicht zu gefährden, sind Konfliktvermeidungsstrategien unabdingbar. Es ist unerlässlich, andere nicht in Verlegenheit zu bringen, Peinlichkeiten zu umgehen und offen geäusserte Kritik oder Widerspruch tunlichst zu vermeiden. In diesen Kulturen verständigt man sich überwiegend indirekt: Der Dialog ist höflich, verbindlich, taktvoll, und man fällt nicht mit der Tür ins Haus. Beziehungs- und Vertrauensaufbau sind zwingend. Indirekte Kulturen umschiffen ein brüskierendes «Nein», was direkte Interaktionspartner dann mitunter als nebulös und undurchsichtig abqualifizieren. Ein hartnäckiges Nachbohren, Beharren oder Belehrungen sind hier wenig erfolgversprechend. Respektbezeugung wird oft durch geringen Augenkontakt signalisiert – eine Kommunikationsform, die in einem anderen kulturellen Kontext fälschlich als Scheuheit oder gar als Unaufrichtigkeit interpretiert wird.

Ein indirekter Kommunikationsstil birgt Herausforderungen: Moniert wird oft, die Gespräche seien von einer ausweichend weitschweifigen Blumigkeit, umständlich, zweideutig, unlogisch, ziellos, kreisend, unpräzise, unstrukturiert, langsam und damit Zeit verschwendend. Dass dies im krassen Widerspruch zur direkten Ausdrucksweise steht, ist offensichtlich, die ja eher fokussiert, eindeutig, faktenbasiert und zeitsparend funktioniert; dort gilt ein Richtig oder Falsch, ein Ja oder Nein, jedoch nichts dazwischen. Aber auch die direkte, uns so geläufige Redeweise hält eine Menge Stolpersteine bereit; nicht zu übersehen sind die mit ihr einhergehenden Nachteile: Sie stellt Fakten vor Beziehungen und wird kritisiert als frontal, ungeduldig, fordernd, konkurrenzbetont, kühl-distanziert, rücksichts- und respektlos und nicht zuletzt als verletzend.

Die tragende Rolle des HR-Managements

Wir haben gesehen: Die Ursache für Kommunikationsprobleme liegt weniger in der Unterschiedlichkeit der Interaktionspartner, sondern es geht vor allem um Unkenntnis, Unsicherheit, fehlende Erfahrung oder mangelndes Verständnis für die andere Kultur. Und hier ist das HR-Management besonders gefragt, indem es die interkulturelle Lernbereitschaft der Mitarbeitenden unterstützt, ganz gleich, ob es sich um ein Team im Inland oder um Expatriates kurz vor einem Auslandsaufenthalt dreht. Interkulturelle Kommunikationstrainings kosten Zeit und Geld, der dafür erforderliche Aufwand wird sich gleichwohl auszahlen.

Ausgerüstet mit dem nötigen Kulturwissen und einem genauen Blick unter den Wasserspiegel des Kultur-Eisbergs ist man gefeit vor Fehlinterpretationen und (Ab-) Wertungen. Und vielleicht ist man dann auch bereit, den «heissen Brei» der anderen als durchaus schmackhaft zu goutieren.

(Erstpublikation: personalSCHWEIZ Nr. 3, April 2023)