Bernhard Frei und Andrea L. Sablone 10.07.2023

Sharing Economy und Kreislaufwirtschaft als Industrie 5.0

Die fünfte industrielle Effizienzsteigerung? Neue Wirtschaftsphänomene und -begriffe tauchen in immer kürzeren Zeitabständen am Horizont auf. Zwei davon sind «Sharing Economy» und «Kreislaufwirtschaft». Sind dies nur kurzlebige Schlagwörter oder tiefgreifende Veränderungen und wie sollen sich Schweizer KMU diesen gegenüber positionieren?

Grundlegende Veränderungen

Die Digitalisierung ist nicht die erste eingehende Veränderung, die die Weltwirtschaft umgewälzt hat. Die Wirtschaftsentwicklung wurde schon vorher durch vier aufeinanderfolgende Entwicklungsschritte geprägt:

Kraft aus Wasser und Dampf

Die erste industrielle Revolution setzte Ende des 18. Jahrhunderts ein. Die geografisch und technologisch limitierte Verfügbarkeit von Rotationsenergie aus Wasser- und Windrädern wich Dampfmaschinen mit deutlich höheren Drehmomenten. Aus Manufaktur wurde Industrie, die ihre geografische Ausrichtung nach der Verfügbarkeit von Brennstoffen maximierte und durch die Leistungssteigerung deutliche grössere Maschinen antrieb. Sie zog massenweise ungelernte Kräfte aus der Landwirtschaft ab und bewirkte eine enorme Effizienzsteigerung.

Fliessband und Elektrizität

Der Einsatz des elektrischen Motors ermöglichte die Dezentralisierung des Antriebsstrangs (Transmission) und damit die Ausrichtung der Fertigung weg vom Antriebsstrang der Dampfmaschine hin zur Logik des Produktflusses. In Kombination mit der Erfindung des Fliessbands wurde die Basis gelegt, um Produkte in noch kürzerer Zeit und in noch grösseren Mengen bei abnehmenden Personalkosten herzustellen: der Beginn der Massenfertigung. Viel breiteren Bevölkerungsschichten war es nun möglich, Produkte aus den Fabriken zu kaufen, einerseits da sie günstiger hergestellt werden konnten, andererseits weil mehr Menschen höhere Einkommen erzielten.

Automatisierung, Computer und Elektronik

Der Einzug der elektronischen Steuerung in den 1970er Jahren in der Industrie beschleunigte die Automatisierung der Produktion. Maschinelle Abläufe und Regelungen konnten hocheffizient gesteuert und menschliche Eingriffe auf ein Minimum reduziert werden. Die industrielle Produktivität stieg erneut dramatisch.

Digitalisierung, Netzwerke und das Internet der Dinge (IoT)

Mit der Vernetzung intelligenter Automatisierungsgeräte und aller anderen an der Produktion beteiligten Systeme entstanden revolutionäre Möglichkeiten in der Abstimmung der Systeme untereinander, der Selbstoptimierung und Selbststeuerung und damit die intelligente Fabrik. Daten aus dem Lebenszyklus des Produkts fliessen in die Entwicklung zurück und nehmen direkten Einfluss auf die aktuelle Produktion. Maschinen teilen Ihren Zustand mit anderen IT-Systemen, die wiederum darauf reagieren, so dass Kundenwünsche optimal in die Produktion aufgenommen werden können. Diese Veränderung ist im Gange und fern von abgeschlossen. Die Digitalisierung erschliesst bisher nicht erahnte Möglichkeiten und macht Geschäftsmodelle möglich, die vorher nicht denkbar waren. Rein digitale Produkte sind frei verfügbar, können ohne Qualitätsverlust unendlich repliziert werden und stehen beinahe ohne Grenzkosten in unbeschränkter Menge zeitnah zur Verfügung.

Unter den durch die Digitalisierung ermöglichten Geschäftsmodellen steht den Plattformen ein besonderer Platz zu. Nur durch die Kombination digitalen Services mit physischen Produkten profitierten auch letztere durch Komplementär- und Plattformeffekte.

Sharing Economy und Kreislaufwirtschaft

Die beschriebenen Phasen der Effizienzsteigerung erfolgen in immer kürzeren Zeitabständen. Aktuell, während die durch die Digitalisierung ausgelösten Veränderungen noch voll im Gange sind, zeichnet sich schon die nächste Welle ab. Diese basiert auf der Verbreitung von Plattformen (z.B. ebay, Airbnb oder Uber) und hebt unser Wirtschaftssystem auf die nächste Stufe. Ausgangspunkt des nächsten Effizienzsprungs sind Sharing-Plattformen, die mit ihren Sharing Economy Services:

  • 1. Zugangs-basierten (z.B. Car- oder Bike-Sharing) Austausch bieten,
  • 2. der Wert-basiert (keine kostenlose Nachbarschaftshilfe),
  • 3. auf mehrseitigen Plattformen-basiert (Airbnb: Gastgeber oder Gast, Uber: Fahrer oder Mitfahrer), erfolgt.

Zugangs-basiert bedeutet, dass die Digitalisierung durch ihre weltweite Vernetzung plötzlich Menschen miteinander vernetzt, die sich ansonsten nie getroffen hätten und damit den Zugang zueinander schafft, d.h. ihre Möglichkeiten etwas zu verleihen einerseits und ihre Bedürfnisse etwas zu benötigen andererseits zu verbinden.

Wert-basiert bedeutet, dass der Transfer wertschöpfend gestaltet ist und je nach Plattform direkt oder allenfalls indirekt über eine Plattform-Gebühr abgerechnet wird.

Plattform-basiert bedeutet, dass Komplementär- und/oder Plattformeffekte einen Effizienzsprung sicherstellen, der weit über eine singulär lineare Einzelbeziehung zwischen Verleiher und Mieter hinausgeht.

Darauf aufbauend bezeichnet die Kreislaufwirtschaft eine Alternative zum linearen Modell des Ressourcenverbrauchs und damit einhergehend die Idee, Ressourcen in einem Kreislauf zu halten, etwa durch Wiederverwendung, Reparatur oder Recycling. Die Basis bildet die Idee eines nachhaltigen Kreislaufs, wobei der Weg von einem linearen zu einem zirkulären Wirtschaftsmodell durch verschiedene Geschäftsmodelle beschritten werden kann.

Serviceprodukte der Kreislaufwirtschaft stellen eine dieser Möglichkeiten dar, wobei der Fokus darauf liegt, lineare Pay-and-Own-Modelle durch zugangsbasierte Modelle zu ersetzen. Dies ermöglich die Nutzung durch mehrere Konsumenten und setzt industrieseitig Anreize für längere Produktlebenszyklen und somit den fünften Effizienzsprung der Industriegeschichte.

Ein Beispiel aus eigener Tätigkeit

PROSE berät Unternehmungen im Bereich der Mobilität in technologischen und betriebswirtschaftlichen Belangen und aktuell auch zu Themen der Kreislaufwirtschaft. In einem Projekt mit Unternehmungen aus der Bahnindustrie wurde sie mit folgender Herausforderung konfrontiert.

Triebfahrzeuge der Bahnindustrie werden für eine Lebensdauer von 30 Jahren konstruiert. Die Instandhaltungskosten übersteigen die Anschaffungskosten je nach Quelle um das Drei- bis Zehnfache und halten somit den Buchwert des Fahrzeugs hoch. Nicht selten stellen technische Ertüchtigungen die Werthaltigkeit der Kapitalbindung durch Lebensdauerverlängerungen (product life extension) sicher. Verschleissteile wie die abgebildeten Wagenübergangs-Kabelverbindungen werden entweder durch neue Kabelverbindungen ersetzt (nicht nachhaltig, da somit wertvolle Rohstoffe verloren gehen), aus still gelegten Flotten gewonnen und als Ersatzteile eingesetzt (recovery & recycling), oder durch Lieferanten aufgearbeitet (product as a service, PaaS).

Mit dem PaaS-Ansatz löst der Eigentümer des Triebfahrzeugs die Obsoleszenz-Themen durch die Sicherstellung der Verfügbarkeit der Zulieferprodukte über die gesamte Lebensdauer des Triebfahrzeugs ab und erhält zusätzlich deutlich günstigere Produkte, weil sämtliche nicht verschlissenen Teile der Kabelverbindung (z.B. teure Aluminium-Flansche zur mechanischen Fixierung an den Wagenkästen) mit geringstem Aufwand neuwertig rezykliert werden.

Auch für den Lieferant der Kabelverbindungen bietet der PaaS-Ansatz Vorteile. Er reduziert seine Supply-Chain-Risiken durch die Wiederverwendung der Aluminiumflansche, deren Beschaffung durch Pandemien und Kriege in Herkunftsländern arg kompromittiert ist (circular supply chain). Zusätzlich erzeugt er einen strategischen Lock-in bei seinem Kunden, dem Triebfahrzeug-Eigentümer, da nur er die Aufarbeitung seiner Produkte sicherstellen kann und dies entsprechend vertraglich zugesichert bekommt.

Fazit und Anwendungsanleitung

Zahlreiche KMU in der Schweiz sind aktuell noch nicht in voller Wucht von diesen neuen, strategischen Veränderungen betroffen. Meistens sind sie mit dringlicheren, operativen Problemen beschäftigt – wie Inflation, Fachkräftemangel, Lieferkettenunterbrüche usw. Nun werden Veränderungen unterschiedlich wahrgenommen und auch verschiedentlich gedeutet. Für die einen stehen vor allem die Gefahren im Vordergrund, während andere Chancen und Möglichkeiten erkennen. Das gilt aktuell insbesondere für die zahlreichen Möglichkeiten der Digitalisierung. Wenn man dann den Blick auf Sharing Economy und Kreislaufwirtschaft richtet, lässt sich ein Versprechen erahnen, dass sie in Bezug auf die dringenderen Probleme der KMU einlösen könnten. Eine gezielte Wiederverwertung verschlissener Teile, wie im oben besprochenen Beispiel, die Wiederverwendung von verfügbaren Ressourcen, die bereits in Produkten verarbeitet wurden oder die gemeinsame Nutzung von teuren Anlagen, sind nur die unmittelbaren Möglichkeiten, die für KMU denkbar sind.

Jede Unternehmung sollte sich überlegen, in welchen Bereichen, die Ansätze der Sharing Economy und der Kreislaufwirtschaft zur Lösung ihrer dringenderen Probleme beitragen können. Zunehmend stehen praxisgerechte Lösungen bereit zur Anwendung, aber oft muss man sie zunächst erarbeiten. Schliesslich besteht die Aufgabe der Unternehmensleitung gerade darin, die Zukunft der Unternehmung zu gestalten. Eine Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen, mit Verbänden, mit Lieferanten und weiteren Partnern kann die Suche nach Lösungen beschleunigen und wirksamer machen.

(Erstpublikation: Unternehmerzeitung Nr. 3, Juni 2023)

Bernhard Frei

Bernhard Frei, Dr. BWL, MSc. Mechatronik, ist Dozent für Strategieentwicklung, Service Transformation und Digitalisierung an diversen Hochschulen der Schweiz und Direktor Corporate Development bei der PROSE AG in Bern, dem führenden europäischen Engineering-Consulting Unternehmen für Mobilität.