Sandro Canneori, Dr. Hagen Worch 15.06.2020

Digitale Transformation: Agiles Vorgehen oder Big Bang?

Wandel ins Digitale. Das richtige Vorgehen bei der digitalen Transformation ist entscheidend für den Erfolg. Unternehmen können zwischen verschiedenen Vorgehensoptionen wählen. Doch unter welchen Bedingungen ist welche Option adäquat?

Die digitale Transformation erlebt derzeit Hochkonjunktur. Für Unternehmen bietet die Digitalisierung enorme Chancen. Sie können neue Geschäftsfelder aufbauen, innovative Geschäftsmodelle implementieren und ihre Kundensegmente erweitern. Gleichzeitig können mit Hilfe neuer Technologien bestehende Prozesse effizienter und damit kostengünstiger gestaltet werden.

Strategische Entscheidung vor Digitalisierungsbeginn

Was ist der Preis der digitalen Transformation? Welche Voraussetzungen müssen Unternehmen erfüllen? Gibt es die digitale Transformation oder besteht eine Vielzahl von unterschiedlichen Digitalisierungsoptionen? Und wie sieht ein adäquates Vorgehen bei der Umsetzung aus? Diese Fragen zeigen, dass zu Beginn der Digitalisierung hohe Unsicherheiten bezüglich der Implementierung bestehen. Um die Unsicherheiten und die damit verbundenen Risiken zu minimieren, wählen Unternehmen bei der Digitalisierung häufig ein agiles Vorgehen. Dabei werden Teilbereiche oder einzelne Projekte umgesetzt. Der Vorteil ist, dass Resultate früher sichtbar werden. Unternehmen können so Erfahrungen sammeln und Quick-Wins realisieren. Dagegen wird die Digitalisierung beim Big Bang-Ansatz weitestgehend gleichzeitig in allen Bereichen der Wertschöpfungskette oder eines Geschäftsfeldes eingeführt. Dies ist dann sinnvoll, wenn die Teilbereiche eines Unternehmens eng verzahnt und voneinander abhängig sind. Damit stellt sich zu Beginn jedes Digitalisierungsvorhabens eine strategisch zentrale Frage: Soll für die Umsetzung ein agiles Vorgehen gewählt oder die Digitalisierung unternehmensweit im Sinne eines Big Bangs eingeführt werden? Dieser Frage geht eine Studie der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) nach, die im Rahmen einer Masterarbeit im Studiengang MSc Business Administration mit Schwerpunkt Innovationsmanagement erarbeitet wurde. Sie untersucht insbesondere Faktoren, die den Entscheid für das richtige Vorgehen erleichtern.

Agile Umsetzung gelungen, Mehrwertgewinn fraglich

Die Untersuchung bestätigt zunächst einmal, dass auch in komplexen Kontexten ein agiles Vorgehen umgesetzt werden kann. In kleinen und iterativen Schritten können Projekte Erfolge erzielen und damit andere Teilbereiche eines Unternehmens mittels Quick-Wins überzeugen. Allerdings wird der Mehrwert der kleinen Fortschritte nicht immer hinreichend sichtbar und somit auch nicht deren Beitrag zur Gesamtstrategie der digitalen Transformation. Häufig bleibt es offen, ob mit einem anderen Vorgehen nicht höhere Mehrwerte hätten generiert werden können.

«Dies erfordert die übergreifende Koordination verschiedener technologie- und managementbezogener Aspekte und eine zentrale Steuerung der Projektteams.»

Aus ökonomischer Sicht sind die Schnittstellen innerhalb einer unternehmensinternen Wertschöpfungskette zentrale Ursachen für Schwierigkeiten einer agilen digitalen Transformation. Teile der Wertschöpfungskette können sowohl technologisch als auch organisatorisch eng verzahnt und damit in hohem Grade abhängig voneinander sein. Dies erfordert die übergreifende Koordination verschiedener technologie-und managementbezogener Aspekte und macht eine zentrale Steuerung von Projektteams notwendig. Zwei konkrete Ursachen für Schwierigkeiten konnten in der Studie herausgearbeitet werden. Dies sind zum einen Zielkonflikte zwischen Unternehmensteilbereichen und zum anderen die häufig unterschätzte Verzahnung innerhalb der Wertschöpfungskette.

Hemnisse für agile Veränderungen entlang der Wertschöpfungskette

Ein agiles Vorgehen kann dazu führen, dass das Silodenken innerhalb eines Unternehmens gefördert und weiter zementiert wird. Durch innovative Digitalisierungsprojekte, die bewusst Neues ausprobieren und Erfahrungen sammeln, kann es vorkommen, dass deren Ziele zunehmend weniger mit denen anderer Unternehmensteilbereiche abgestimmt sind. Noch gravierdender ist es, wenn gemeinsame Ziele aufgegeben werden oder sich sogar konfliktär entwickeln. Als
Folge laufen Projektteams in unterschiedliche Richtungen. Ein intensiver interner Wettbewerb um Budgets und Ressourcen verstärkt diesen Effekt. Die durch ein agiles Vorgehen entstehenden und sich verstärkenden Zielkonflikte innerhalb eines Unternehmens können die digitale Transformation gefährden.

Die Studie zeigt weiterhin, dass Agilität in der digitalen Transformation dann nicht vorteilhaft ist, wenn starke technologische und organisatorische Wechselwirkungen zwischen Teilen der Wertschöpfungskette bestehen. In dem Fall sind die Teilbereiche eines Unternehmens häufig durch integrierte Systeme verbunden. Ein agiles Vorgehen in einem Teilbereich würde entweder relativ wirkungslos bleiben, weil es einen zu geringen Effekt auf das gesamte integrierte System hat. Im schlimmesten Fall gefährdet ein solches Vorgehen der digitalen Transformation das Gesamtsystem und damit das Unternehmen.

Ein weiterer Erfolgsfaktor: Die unternehmensinterne Kommunikation der Firmenleitung

Wie bei anderen das gesamte Unternehmen betreffenden Themen, ist es zentral, dass die digitale Transformation von der Unternehmensführung gewollt und unterstützt wird. Gerade wenn die Teilbereiche eines Unternehmens stark interagieren, ist eine umfassende Koordination auf oberster Stufe des Unternehmens notwendig. Nur so können die Gesamtinteressen einer Firma im Auge behalten und entscheidende Signale bezüglich der Bedeutung dieses Prozesses an die Firmenmitarbeitenden gesandt werden. Dem Silodenken wird so vorgebeugt und das Bewusstsein für die Verzahnung der Wertschöpfungskette gestärkt.

Digitalisierung verändert sowohl bestehende Prozesse als auch die benötigten Kompetenzen innerhalb eines Unternehmens. Deshalb haben Mitarbeitende anfänglich oft Mühe mit den neuen Prozessen. Digitale Transformation führt ausserdem dazu, dass bestimmte technische und organisatorische Kompetenzen obsolet werden. Das Ausbleiben eines schnell generierten Mehrwerts der digitalen Transformation kann die Stimmungslage im Unternehmen zusätzlich verschlechtern. Die Unternehmensführung muss aus diesen Gründen darauf achten, dass die digitale Transformation nicht zu einem Angstinstrument wird und Widerstände hervorruft. Mit hinreichender Kommunikation und durch die Einbindung der Mitarbeitenden kann sie diesen Effekten entgegenwirken.

Das Fazit

Die digitale Transformation ist ein komplexer, vielschichtiger Prozess. Ein agiles Vorgehen bei der Umsetzung hat sich in vielen Situationen bewährt. Die vorliegende Studie zeigt jedoch, dass bestimmte unternehmensspezifische Bedingungen berücksichtigt werden müssen, um ein erfolgversprechendes Umsetzungsvorgehen zu wählen.

Insbesondere liefert sie wichtige Hinweise, ob ein agiles Vorgehen oder ein Big Bang-Ansatz adäquat sind. Massgebliche Indikatoren, die ein umfassendes Angehen einer digitalen Transformation im Sinne eines Big Bang-Ansatzes nahelegen, sind die Anzahl und Komplexität der bestehenden internen und externen Schnittstellen. Komplexität bezieht sich dabei sowohl auf die technologische als auch auf die organisatorische Dimension.

Die Umsetzung einer erfolgreichen digitalen Transformation beginnt mit einer Maturitätsanalyse des Unternehmens. Es braucht eine schonungslose Ist-Analyse, um zu erkennen, welche kritischen Punkte angegangen werden müssen, damit der Weg zur Transformation geebnet werden kann. Auch eine Unternehmenskultur zu fördern, die geprägt ist von Bereitschaft für Veränderung, Kundenorientierung und Offenheit für Lernprozesse, kann zur erfolgreichen Digitalisierung entscheidend beitragen.

Entweder oder der strategische Entscheid ist zentral

Die Befunde der Untersuchung zeigen, dass es massgeblich ist, sich mit der Frage zu beschäftigen, welchen Umfang die digitale Transformation in einem Unternehmen hat und unter welchen Bedingungen die Umsetzung stattfinden soll. Für den Digitalisierungserfolg zentral ist der strategische Entscheid für ein agiles Vorgehen, einen Big Bang-Ansatz oder eine gemischte Form des Vorgehens.

Mit diesem Entscheid können Schweizer Unternehmen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche digitale Transformation schaffen und ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken.

(Erstpublikation: Zeitschrift «Unternehmerzeitung, 05/2020»)

 

Autoren

Sandro Canneori verantwortet die technische Umsetzung der digitalen Transformation bei Jelmoli als Leiter IT und war davor für verschiedene Digitalisierungsprozesse in grösseren Schweizer Unternehmen verantwortlich. Er ist Absolvent des Studiengangs Master of Science in Business Administration mit Schwerpunkt Innovationsmanagement der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS).

Kontakt: sandro.canneori@jelmoli.ch

Dr. Hagen Worch ist Forschungsfeldleiter für «Innovation & Entrepreneurship» am Institut für Management und Innovation (IMI) der FFHS. Er doziert in den Bereichen Innovationsökonomik, Innovationsmanagement und Entrepreneurship im Studiengang MSc Business Administration.


Kontakt: hagen.worch@ffhs.ch