Dr. Natascha Hebestreit, Bora Altuncevahir 14.02.2020

Von der Linse zum Spaceshuttle und zurück

Ein wissenschaftlich fundierter und praktischer Ansatz hilft KMU und Grossunternehmen, die Herausforderungen bei der Entwicklung künftiger Innovationen zu meistern. Studierende im MSc Business Administration an der FFHS lernen seine Relevanz kennen.

Im Bezug auf die Bedeutung von Innovationen für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen ist keine Überzeugungsarbeit mehr nötig. Was hingegen vor Probleme stellt, ist ihre Implementierung. So liegen zwischen Theorie und Praxis oftmals Welten, denn eine Umsetzung stellt KMU wie Grossunternehmen oftmals vor substanzielle Probleme. Gerade im Bereich der Open Innovation bieten Plattformen ihre Dienste an oder Beratungsunternehmen stellen zur Problemlösung ihre Netzwerke zur Verfügung. Der Grundgedanke dahinter basiert auf einem Giesskannenprinzip: Ein Problem wird in einem breiten Netzwerk dargelegt und von unterschiedlichen Seiten kommen dazu Lösungsvorschläge. Logischerweise verlangt dieses Vorgehen nach einem möglichst grossen Netzwerk, denn je mehr potenzielle Problemlöser von dem Aufruf erfahren, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines «Treffers».

Gründe des Scheiterns. In der Praxis hat dieses Vorgehen mindestens drei Nachteile:

  1. Zunächst funktioniert es nur bei solchen Problemen, die auch von Nicht-Experten auf Anhieb verstanden werden können und die keine Sprachbarrieren zwischen den Fachrichtungen erzeugen.
  2. Zum anderen kommen nur ganzheitliche Lösungen aus einer Hand infrage – Netzwerkmitglieder, die lediglich über Teilkomponenten zur Problemlösung verfügen, können auf diese Weise nicht erreicht werden.
  3. Und schlussendlich würde eine sinnvolle und zielgerichtete Suche mit Google solche Lösungen ebenso gut aufdecken können.

Online-Netzwerke sind deshalb für komplexe technische Probleme gänzlich ungeeignet, auch weil sie keinerlei qualitative Verbindung zwischen Teilkomponenten herstellen können. Besonders KMU können sich solche teuren und teilweise langwierigen Fehlversuche nicht leisten – besonders nicht dort, wo die Margen tief sind und der Wettbewerb über den Preis entschieden wird.

Innovation neu denken.  Deshalb braucht es ein Zusammenspiel verschiedener Komponenten, deren Verbindung erst durch ein systematisches Scouting aktiv aufgedeckt werden muss. Dazu passt eher das Bild eines Puzzles, bei dem die einzelnen Teile meist gar nicht wissen, dass sie sich zu einem stimmigen Gesamtbild fügen lassen. Aus diesem Grund verspricht ein qualitativ hochwertiges Netzwerk eher den gewünschten Erfolg, wenn es eine breite Abdeckung unterschiedlicher Branchen einerseits mit einer genauen Kenntnis der Mitglieder andererseits zu verbinden weiss. Nur wenn jedes Mitglied des Netzwerkes mit seinen konkreten Kompetenzen sowie seinen Entwicklungen genau bekannt ist, lässt sich sein potenzieller Beitrag zur Problemlösung sinnvoll bestimmen.

Wie Unternehmen erfolgreich innovieren. Ein gutes Verfahren für komplexe Probleme geht deshalb nach der sogenannten ATLAS-Innovationsmethode vor, wie sie vom Unternehmen Blue-Think entwickelt wurde:

  1. Strategisches Design: Dabei wird ein Problem zunächst ganzheitlich erfasst und anschliessend werden die kritischen Achillesfersen isoliert: Worin genau liegt das eigentliche Problem? Für Unternehmen bedeutet dies, minutiös zu eruieren, wo in der Wertschöpfungskette und im Wertnetzwerk Bedarf für neue Lösungen vorhanden ist, welche Aufgaben heute wie ausgeführt werden und wo der «Pain» – sei das beim Kunden, Lieferanten oder intern – auszumachen ist. Dieser Schritt ist keinesfalls banal, macht er doch eine hohe Abstraktion notwendig, die vielen Fachexperten und Ingenieuren schwerfällt, weil sie in den Denkmustern ihrer Spezialisierung gefangen sind – eine Zwickmühle, mit der KMU ohne strukturiertes Innovationsmanagement noch stärker zu kämpfen haben. So bestand das Problem eines Herstellers für optische Linsen, welche einem Oberflächenschliff unterzogen wurden, nicht etwa in einer Optimierung zwischen einer Bearbeitung bei möglichst hoher Geschwindigkeit – was die Qualität der Linse erhöhte – und auf der anderen Seite einem durch den Schleifprozess selbst erzeugten Temperaturanstieg, der ab einem gewissen Schwellen-wert das Material schwächte. Anders als von den Ingenieuren vermutet, lag der Kern des Problems in der schädlichen Auswirkung eines Temperaturanstiegs für die Linse selbst, welcher der Schleifgeschwindigkeit sowie einer verkürzten Bearbeitungszeit Grenzen setzte und damit einer höheren Qualität bei niedrigeren Produktionskosten im Wege stand.
  2. Technology Scouting: Erst nachdem das Problem in seine Einzelkomponenten zerlegt ist und die kritischen Punkte herausgearbeitet wurden, kann die Suche nach einer Lösung beginnen. Dabei werden gezielt Bereiche durchsucht, die mit  ergleichbaren Problemen zu kämpfen haben – quasi nach einem Konfrontations- und Ähnlichkeitsprinzip. Dieser Ansatz ist neu und bisher einzigartig, schafft aber Raum für ganz neue Lösungen. So liessen sich beim Beispiel der optischen Linsen Parallelen zu einem Spaceshuttle finden, bei dessen Eintritt in die Erdatmosphäre ebenfalls grosse Hitze entsteht und welches durch das sogenannte thermal protection system (TPS) isoliert wird. Zur Lösungsfindung kann nun sowohl proaktiv das eigene Netzwerk durchsucht werden – wobei die einzelnen Partner und ihre Aktivitäten im Detail bekannt und verstanden sein müssen – als auch eigene Lösungen entwickelt und getestet werden. Oft müssen hier Bereiche miteinander verbunden werden, die ursprünglich weit voneinander entfernt liegen und deren Gemeinsamkeiten erst im Hinblick auf ein konkretes Problem zutage treten – wie beispielsweise die hohe, materialschwächende Temperatur bei Spaceshuttle und optischen Linsen. Und schliesslich müssen Lösungen dann wieder in den Gesamtprozess integriert und in die Betriebsabläufe implementiert werden.
  3. Entwicklung und Prototypisierung: Wer kann nun eine solche ATLAS-Innovationsmethode umsetzen? Da wäre zunächst ein strukturiertes Innovationsmanagement, wie es in Grossunternehmen anzutreffen ist. In der Praxis kommt es hierbei allerdings zu einer fehlenden Multidisziplinarität: Wie sollte ein Hersteller von optischen Linsen einen Luft- und Raumfahrttechniker in seinem Innovationsteam beschäftigen? Und vielleicht wird für das nächste Problem ein Lebensmittelchemiker oder ein Informatiker gebraucht! Ein unternehmenseigenes interdisziplinäres Team oder ein aktives Netzwerk von Partnern aus anderen Branchen schafft für ein Unternehmen somit umgehend Effizienzprobleme. Und KMU können sich einen so aufwendigen Prozess noch weniger leisten. Ein branchenspezifischer Blick hingegen verengt den Lösungshorizont und steht innovativen Ideen im Weg.


    Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch externe Integration. Sinnvoll ist es demnach, solche Probleme an Unternehmen auszulagern, die einerseits über ein qualitativ hochwertiges Netzwerk von Experten verfügen, andererseits aber gerade keine Branchenspezifität aufweisen, um offen neue Lösungen finden oder gar selbst entwickeln zu können.

  4. Unterstützung der Industrialisierung: Dabei hilft das Aufzeigen einer solchen Lösung Unternehmen in vielen Fällen nur bedingt weiter, denn für die Implementierung fehlt es an den notwendigen Kompetenzen – der Hersteller von optischen Linsen hat schliesslich noch immer keinen Luft- und Raumfahrttechniker in seinem Betrieb. Idealerweise gehen die Entwickler einer Lösung deshalb zu ihrer Implementierung ins Unternehmen und leisten vor Ort den notwendigen Know-how-Transfer. Der Bedarf an industrieübergreifender und offener Zusammenarbeit mit den jeweiligen Experten zur Entwicklung von Innovationen ist in Zukunft eine notwendige Voraussetzung für Innovationserfolg. Auf diese Weise können Unternehmen sowohl die Wettbewerbsvorteile, welche Open Innovation zweifellos bietet, für sich nutzen, als auch Entwicklungszeiten verkürzen und ein sinnvolles Risikomanagement betreiben – denn Lösungen, welche in anderen Branchen bereits erfolgreich etabliert sind, verringern das Scheitern gegenüber Ideen, deren Entwicklung bei Null beginnt.