16.04.2025

«Nachhaltiges Essen sollte kein Verzicht sein, sondern eine Bereicherung»

Ernährungsberater spielen eine Schlüsselrolle im Wandel hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem. Im Auftrag des Schweizerischen Verbandes der Ernährungsberater/innen (SVDE) erarbeiteten Fachleute ein neues Positionspapier, das im Juli erscheinen wird. Im Interview spricht Mitautorin Marion Wäfler über Rollen, Ziele und Herausforderungen – und warum nachhaltiges Essen mehr Freude als Verzicht bedeuten sollte.

Marion Wäfler, wie ist die Idee für dieses Positionspapier entstanden?
Die Idee entstand vor dem Hintergrund der zunehmenden Notwendigkeit, unser Ernährungssystem nachhaltiger zu gestalten. Einige Berufskollegen sind sich der zentralen Rolle bewusst, die wir als Ernährungsberaterinnen und -berater dabei spielen – aber längst nicht alle. Und nicht nur das: Unsere Berufsgruppe sollte insgesamt deutlich stärker in Erscheinung treten und ihre Kompetenzen in diesem Transformationsprozess gezielt gegenüber Politik, Verwaltung, Bildungseinrichtungen und NGOs bewusst machen. Der konkrete Auslöser war der Wunsch, die Fachkompetenz von Ernährungsberatern aktiv in die Diskussion rund um eine nachhaltige Ernährungspolitik in der Schweiz einzubringen. In den letzten zwölf Jahren haben mindestens sechs nationale Berufsverbände nachhaltige Ernährungsweisen und Ernährungssysteme als Teil ihres Aufgabenbereichs anerkannt – teilweise ebenfalls mit Positionspapieren. Es war also höchste Zeit, dass auch wir in der Schweiz hier aktiv werden.

Welche Hauptziele verfolgt das Papier?
Zum einen möchten wir aufzeigen, welche bedeutende Rolle die Ernährungsberatung beim Wandel hin zu einem nachhaltigeren Ernährungssystem spielt – nicht nur in der direkten Beratung, sondern auch in Bildung, Forschung und Politik. Zum anderen definieren wir Handlungsfelder und geben Empfehlungen, wie diese Rolle gestärkt und langfristig verankert werden kann – zum Beispiel durch Aus- und Weiterbildungen oder durch interdisziplinäre Zusammenarbeit.

An welche Zielgruppen richtet es sich?
Das Positionspapier richtet sich einerseits an Fachpersonen aus dem Gesundheits- und Ernährungsbereich. Andererseits sprechen wir gezielt Entscheidungsträger in Politik, Verwaltung, Bildungseinrichtungen und NGOs an. Wir möchten Impulse geben, wie Ernährungsberatung als Teil der Lösung verstanden und gezielt gefördert werden kann.

Welche Rolle haben Sie persönlich in der Erarbeitung dieses Positionspapiers gespielt?
Ich war als Vertreterin der FFHS und als Ernährungsberaterin beteiligt – mit grossem persönlichem Interesse an der Transformation unseres Ernährungssystems. Das Positionspapier wurde gemeinsam von den drei Schweizer Fachhochschulen BFH, HES-SO und FFHS, die den Bachelorstudiengang Ernährung und Diätetik anbieten, initiiert und in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Nachhaltigkeit des Schweizerischen Verbandes der Ernährungsberater/innen (SVDE) für den SVDE selbst erarbeitet. Ich finde es ein starkes Zeichen, dass alle drei Fachhochschulen gemeinsam hinter diesem Papier stehen.

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit den anderen Expertinnen und Co-Autorinnen?
Die Zusammenarbeit war sehr bereichernd und spannend. Zunächst haben wir ein Konzept erstellt, ein Budget ausgearbeitet und verschiedene Finanzierungsgesuche eingereicht. Das Papier durchlief mehrere Review-Runden mit weiteren Fachpersonen und Organisationen. Besonders spannend war für mich die enge Zusammenarbeit mit gleichgesinnten, motivierten Kolleginnen – gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, das der ganzen Berufsgruppe dient. Auch der Austausch mit Kolleginnen aus der Romandie und deren Herangehensweise an das Thema war für mich sehr lehrreich.

Warum sind Ernährungsberater aus Ihrer Sicht zentral im Transformationsprozess zu einem nachhaltigen Ernährungssystem?
Weil sie an der Schnittstelle von Gesundheit, Umwelt und Bildung arbeiten. Ernährungsberater verfügen über fundiertes Wissen zu Lebensmitteln, Ernährung und Ernährungssystemen. Gleichzeitig verstehen sie die Hintergründe der Lebensmittelproduktion, die sozialen und kulturellen Aspekte von Ernährung sowie die alltäglichen Herausforderungen der Menschen. Dieses Wissen können sie praxisnah vermitteln und damit komplexe Zusammenhänge verständlich machen.

Wie bewerten Sie die aktuelle Entwicklung in der nachhaltigen Ernährung – geht es in die richtige Richtung?
Es ist auf jeden Fall Bewegung in der Sache – das Bewusstsein für nachhaltige Ernährung ist bei vielen Menschen angekommen. Auch an der FFHS erlebe ich das, zum Beispiel durch unser Engagement in der Nachhaltigkeitsgruppe, wo wir Themen wie «Food Waste» bearbeiten und konkrete Massnahmen umsetzen. Trotzdem bleibt viel zu tun. Die neue Strategie des Bundes setzt wichtige Impulse, aber zwischen ambitionierten Zielen auf dem Papier und deren Umsetzung in der Praxis klafft – wie so oft – noch eine grosse Lücke. Um wirklich eine Wende zu schaffen, müssen wir an vielen Rädern gleichzeitig drehen: in der Landwirtschaft, bei Verarbeitung und Vermarktung, im Konsumverhalten und in der Bildung. Nur wenn alle Akteure des Ernährungssystems eingebunden sind, wird nachhaltige Ernährung zur gesellschaftlichen Normalität.

Was sind Ihre persönlichen Wünsche und Visionen für die Zukunft hinsichtlich Ernährung und Nachhaltigkeit?
Mein Wunsch: Nachhaltiges Essen sollte kein Verzicht sein, sondern eine Bereicherung. Eine Esskultur, in der Wertschätzung für Lebensmittel, faire Produktionsbedingungen und Umweltbewusstsein selbstverständlich sind, und in der Biodiversität einen hohen Stellenwert hat. Meine persönliche Vision ist eine Zukunft, in der pflanzenbasierte, regionale und saisonale Ernährung Normalität ist – unterstützt durch klare, evidenzbasierte Kommunikation und politische Rahmenbedingungen, die nachhaltiges Handeln erleichtern. Und ich hoffe, dass die Ernährungsberatung als zentrale Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Alltag und Politik noch stärker anerkannt und gestärkt wird. Denn wer Menschen in ihrer individuellen Lebensrealität begleitet, kann echte Veränderungen bewirken.

Welche Aspekte einer nachhaltigen Ernährung sind Ihnen persönlich besonders wichtig – und wie setzen Sie diese im Alltag um?
Mir ist der respektvolle Umgang mit Lebensmitteln und den Menschen, die sie produzieren, sehr wichtig – genauso wie mit Nutztieren. Deshalb versuche ich, so wenig wie möglich wegzuwerfen (auch wenn das nicht immer gelingt) und esse nur selten Fleisch oder Fisch. Beim Einkauf achte ich auf möglichst unverarbeitete, biologisch produzierte und regionale Produkte. Manchmal greife ich auch gezielt zu Lebensmitteln, die kurz vor dem Verfallsdatum stehen – in solchen Fällen nehme ich es dann mit dem Bio-Label auch weniger genau.