Dr. Michael Jäger 07.07.2025

Technologie muss sich dem Menschen anpassen

Mit dem Übergang zur Industrie 5.0 rückt die direkte Zusammenarbeit von Mensch und Maschine in den Fokus. Kollaborative Roboter, Künstliche Intelligenz und adaptive Steuerungen ermöglichen eine flexible Interaktion, bei der intelligente Systeme sich an den Menschen und seine Arbeitsweise anpassen. Dr. Michael Jäger, Studiengangsleiter MAS Industrie 4.0 an der FFHS, zeigt auf, welche Herausforderungen dabei entstehen – und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Maschinen zu echten Partnern im Arbeitsalltag werden.

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Eine erfahrene Maschinenbedienerin greift nach einem Werkstück – gleichzeitig bewegt sich ein Roboterarm in dieselbe Richtung. Kein Unfall, aber ein Moment der Unsicherheit. Wer hat Vorrang? Wer «weiss», was als Nächstes geschieht? Diese Szene mag konstruiert wirken, steht aber exemplarisch für eine neue Realität: Mensch und Maschine arbeiten zunehmend im selben Raum – und an denselben Aufgaben.

Während in der Industrie 4.0 Automatisierung und Vernetzung im Vordergrund standen, geht es in der Industrie 5.0 um echte Zusammenarbeit. Der Mensch bleibt im Zentrum – unterstützt von Technik, die nicht nur Befehle ausführt, sondern aktiv auf ihre Umgebung reagiert. Maschinen werden zu Partnern, die mitarbeiten und mitdenken. Damit das gelingt, muss sich die Technologie an den Menschen anpassen: Sie soll verständlich, sicher und intuitiv bedienbar sein – nicht umgekehrt.

Intelligente Unterstützung statt starrer Abläufe

Kollaborative Roboter – sogenannte Cobots – verkörpern diesen Wandel besonders deutlich. Sie sind dafür entwickelt, direkt mit dem Menschen zusammenzuarbeiten, nicht abgeschottet, sondern integriert in bestehende Prozesse. Sie erkennen Bewegungen, passen sich in Echtzeit an und lernen mit jeder Interaktion dazu. Möglich wird das durch Technologien wie Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen. Cobots erfassen Arbeitskontexte, erkennen Muster und reagieren auf individuelle Abläufe. So entsteht eine Form der Zusammenarbeit, die sich selbstverständlich in den Alltag einfügt – ohne lange Einarbeitung.

Gute Mensch-Maschine-Interaktion basiert nicht auf komplexen Anleitungen, sondern auf intuitivem Verständnis. Maschinen müssen erkennen, ob ihr Eingreifen hilfreich oder hinderlich ist, ob sie unterstützen oder sich zurückhalten sollen. Dafür braucht es intelligente Sensorik, adaptives Verhalten – und ein durchdachtes Interaction-Design. Je weniger der Mensch über die Bedienung nachdenken muss, desto effizienter die Zusammenarbeit. Idealerweise fügt sich die Maschine in den Arbeitsfluss ein wie ein erfahrener Kollege: unaufdringlich, verlässlich, lernfähig.

Wenn Technologie sinnvoll eingesetzt wird, entsteht ein Arbeitsumfeld, das nicht nur produktiver, sondern auch menschlicher ist. Die Sorge, dass Maschinen die Menschen ersetzen, weicht der Erkenntnis, dass sie neue Rollen schaffen – als Assistenten, Unterstützer, Mitgestalter. Voraussetzung dafür ist jedoch ein Umdenken in der Industrie: Weg von Kontrolle – hin zur Zusammenarbeit.

Ein Praxisbeispiel zeigt, wie das gelingen kann – und wo Hürden bleiben: In einem Unternehmen der Automobilzulieferindustrie wurde ein Cobot in der Getriebemontage eingesetzt, um schwere Bauteile präzise zu positionieren. Der Mensch übernimmt die Feinmontage. Das Ergebnis: ergonomischere Arbeitsplätze, weniger Fehler und kürzere Rüstzeiten. Die grösste Herausforderung lag jedoch nicht in der Technik, sondern in der Einführung. Zwar liess sich der Cobot technisch gut integrieren, doch der Anpassungsaufwand bei Prozessen, Sicherheitskonzepten und Mitarbeiterschulungen war nicht zu unterschätzen. Besonders entscheidend war die Akzeptanz im Team: Nur wer versteht, wie der Cobot funktioniert und welchen Nutzen er bringt, arbeitet auch gerne mit ihm zusammen.

Mitarbeitende müssen nicht nur technische Abläufe beherrschen, sondern auch mit digitalen Schnittstellen, Fehlerdiagnosen und neuen Formen der Zusammenarbeit umgehen. Erst wenn Schulung, Kommunikation und Beteiligung zusammenspielen, wird aus Technik auch tatsächlich Fortschritt.

Fazit: Technologie, die sich einfügt

Die Zukunft der Industrie liegt nicht in der Entwicklung immer komplexerer Systeme, sondern in Lösungen, die sich funktional, verständlich und flexibel in bestehende Arbeitsabläufe integrieren lassen. Entscheidend sind dabei nicht nur technische Fähigkeiten, sondern die Anpassung an Prozesse, Rollen und Qualifikationen. Systeme, die menschliche Arbeitslogik erfassen und sich daran orientieren, werden zur echten Unterstützung – nicht zur Konkurrenz. Denn auch in der Industrie gilt: Technologie muss sich dem Menschen anpassen – nicht umgekehrt.

(Erstpublikation: Technische Rundschau 6/2025)