«Ich bin kein Insektenaktivist»
Prof. Dr. Diego Moretti ist Forschungsfeldleiter Ernährung und Gesundheit an der FFHS und forscht als international renommierter Wissenschaftler, insbesondere im Bereich Eisen. Im Interview räumt er mit dem ein oder anderen Vorurteil auf und erklärt, worauf beim Essen stets zu achten ist – Genuss gehört definitiv dazu.

Prof. Dr. Diego Moretti ist Forschungsfeldleiter an der FFHS und als international anerkannter Ernährungsforscher in einer zukunftsweisenden Branche tätig. (Fotos: Dominic Steinmann)
Diego, kochen Sie gerne?
Ja, sehr gerne. Das tägliche Kochen ist aber nicht immer nur ein Vergnügen. Auch mir als Fachperson fehlt es manchmal an Inspiration, wenn es schnell gehen und trotzdem allen schmecken soll. An Sonn- oder freien Tagen geniesse ich es jedoch besonders, gemeinsam mit Freunden, meiner Partnerin oder meiner Tochter zu kochen. Was servieren Sie Ihren Gästen? Lasagne gehört zu meinen Favoriten, und ein Bonmot besagt ja: «Die Frage ist nicht Pasta oder nicht, sondern womit». Besonders mag ich die mir vertraute norditalienische Küche. Ausserdem koche ich gerne Linsen nach indischer Art und asiatische Gerichte. Ich probiere auch gerne Neues aus. Kommen denn auch Insekten auf den Tisch? Eher selten, aber es kommt vor. Beruflich beschäftige ich mich damit, aber ich bin kein Insektenaktivist. Es gibt einen Insektensnack, den wir manchmal zu Hause haben. Zudem gibt es ein paar interessante Convenience-Produkte auf Insektenbasis in den Supermärkten, aber grundsätzlich bevorzuge ich frisch gekochte Gerichte. Trotzdem finde ich das Thema spannend und zukunftsweisend.
Sie forschen im Bereich von insekten- und pflanzenbasierten Fleischalternativen. Kann damit die Welt gerettet werden?
Nun, Aktivismus und Wissenschaft passen nicht gut zusammen. Unser Lebensmittelherstellungssystem hat viele Baustellen und Probleme, aber ob Rettung das richtige Wort ist, sei dahingestellt. Natürlich ist der übermässige Fleischkonsum – und ich betone «übermässig» – weder nachhaltig noch zukunftsfähig. Aus ressourcentechnischen und aus meinen persönlichen ethisch-moralischen Ansichten wäre es sicherlich nicht wünschenswert, noch mehr Tierfabriken zu errichten.
Darf man denn heute überhaupt noch Fleisch essen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben?
Das hängt von der persönlichen Einstellung ab. Moralische, kulturelle und spirituelle Aspekte spielen eine Rolle. Gesundheitlich – und auch wenn man Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt – darf man durchaus Fleisch essen, massvoll. Fleisch und Fisch sind Teil unserer Kultur.
Welches Lebensmittel würden Sie verbannen, das in unserer Gesellschaft besonders verbreitet ist?
Verbannen würde ich kein Lebensmittel, auch die verpöntesten Produkte dürfen auf dem Speiseplan stehen, wenn sie sorgsam und spärlich konsumiert werden. Was aber definitiv zu viel in unserer Ernährung vorkommt, ist der einfache Zucker. Er hat ein gewisses Suchtpotenzial und steckt in unzähligen Produkten. Aus gesundheitlichen Gründen sollte der Zuckerkonsum reduziert werden. Zudem ist auf Diversität und möglichst vollwertige Kost zu achten.
Und welches Lebensmittel wird zu Unrecht verpönt?
Kohlenhydrathaltige Lebensmittel haben einen schlechten Ruf, besonders durch «Low-Carb»-Trends. Dabei ist der Verzicht auf Kohlenhydrate kontraproduktiv und kann dem Körper unnötigen Stress bereiten. Komplexe Kohlenhydrate, wie sie bei dunklen Mehlen und Hülsenfrüchten vorkommen, sind eine optimale Energiequelle, bieten langanhaltende Sättigung und unterstützen die Darmgesundheit.
Was ist der grösste Ernährungsmythos, dem Sie in Ihrer Karriere begegnet sind?
Vor allem jene, die Makronährstoffe betreffen. Fett wird negativ dargestellt, obwohl es in angemessenen Mengen ein hervorragender Energielieferant ist – abhängig von der Art des Fetts und wie es konsumiert wird. Umgekehrt wird Protein aktuell überbewertet. Der aktuelle Trend hin zu «High-Protein»-Produkten ist nicht unbedenklich, denn übermässiger Proteinkonsum kann ungesund sein.

Diego Moretti ist überzeugt, dass man als Forscher nicht die Welt rettet, aber mit der richtigen Portion Idealismus kann man sie zumindest etwas verändern.
Welche Schwerpunkte haben Sie in der Ernährungsforschung an der FFHS?
Ich will die Biologie und Physiologie des menschlichen Körpers besser verstehen. Ich habe die Hoffnung, dass ein besseres Verständnis des menschlichen Stoffwechsels uns auch die Argumente liefern kann, uns besser und bewusster zu ernähren. Das ist zumindest mein persönlicher Antrieb.
An welchen Projekten arbeiten Sie mit Ihrem Team aktuell?
Das Projekt von Nora Barloggio untersucht die Eisenaufnahme aus optimierten pflanzenbasierten Fleischalternativen. Laila Hammer forscht zu Proteinqualität. Giulia Pestoni zu Ernährungsgewohnheiten in der Schweiz. Ein Projekt beschäftigt sich mit dem Eisenbedarf von Sportlern und Menschen, die in grossen Höhen leben, im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung. Es dreht sich viel um das Thema Eisen, Spezialisierung ist in der Forschung essenziell.
Was bringen Ihre Forschungsprojekte der Gesellschaft?
Eisenmangel ist ein globales Problem, und es gibt noch viele offene Fragen, die optimale Vorbeugung und Therapien noch hindern. Forschung soll Antworten liefern und so einen positiven Beitrag für alle leisten. Wissen kann Fortschritt schaffen, aber es erfordert auch viel Zeit und Geduld – eine gewisse Frustrationstoleranz muss man mitbringen. Man betreibt Forschung aus Überzeugung und eine Prise Idealismus gehört dazu.
Sogenannte Superfoods sind im Trend. Was halten Sie davon?
Der Begriff «Superfood» ist etwas irreführend, da er suggeriert, dass diese Lebensmittel etwas ausgleichen können, wenn man sonst eine unausgewogene Ernährung hat. Ernährung wird oft kurzfristig über- und langfristig unterbewertet. Wenn ich heute eine Portion Pommes und ein Coupe Dänemark esse, ist es an sich kein Problem. Dies ständig zu tun, wäre aber verheerend. Punktuelle Aussetzer sind gar empfehlenswert, da man sie besonders geniessen kann.
Nutzt das Marketing solche Begriffe aus?
Nun, die meisten Superfoods wie Avocado, Nüsse oder Beeren sind sehr wertvolle Lebensmittel, die an sich empfehlenswert sind. Gelogen wird nicht, aber natürlich wird der Begriff kommerziell clever genutzt.
Was sind die häufigsten Fehler, die Menschen machen, wenn sie versuchen, «gesünder» zu essen?
Es ist heikel, von Fehlern zu sprechen. Empfehlenswert ist es, bewusst und reflektiert zu essen; auf den eigenen Körper hören und die Ernährung je nach individuellen Bedürfnissen anpassen. Ratschläge soll man nach eigenen Vorlieben übernehmen. Dieser Gestaltungsraum kann auch überfordern, weshalb es Ernährungsberater gibt, wie wir sie auch an der FFHS ausbilden.
Heute stehen wir ständig unter Stress – auch beim Essen. War das früher anders?
Man muss die Vergangenheit nicht idealisieren, aber gewisse Aspekte, die früher stärker im Fokus standen, könnte man wiederentdecken – wie rituelle und soziale Aspekte des Essens. Heutzutage haben Convenience-Produkte und die ständige Verfügbarkeit von Lebensmitteln das Essen beschleunigt. Wissenschaftlich gesehen ist eine schnelle Nahrungsaufnahme suboptimal und führt längerfristig zu Überkonsum mit allen Folgen, die wir kennen: chronische Krankheiten wie Diabetes, Übergewicht usw.