Dr. Natascha Hebestreit 27.03.2019

«Oh Schreck, Agilität funktioniert!» Eine Antwort auf die Digitalisierung

Der Schein trügt - Agilität ist kein Modewort. Tatsächlich handelt es sich dabei um die (bisher) effektivste Antwort auf die Frage, wie wir mit den tiefgreifenden Veränderungen umgehen können, die die Digitalisierung mit sich bringt. In unserem Blogbeitrag erklärt Natascha Hebestreit, Dozentin und Fachbereichsleiterin Innovation Management an der FFHS, weshalb sie nicht viel von Etappenplänen und Projektansätzen bei der Einführung von Agilität hält, und dass die Entscheidung zur Umsetzung zur wohl spannendsten Reise Ihres Unternehmens werden kann. Allerdings ohne Endstation.

Digitalisierung ist ein Prozess, der schnell vonstattengeht und lange dauert. So hat die Robotik in den 1970er Jahren Fahrt aufgenommen und Begriffe wie «cloud-computing» und «e-business-integration» sind seit 1996 fest in Literatur und Sprachgebrauch verankert. Vom «internet oft things» sprechen wir gar seit 1991 – also seit fast dreissig Jahren! Trotzdem haben die grossen Veränderungen noch längst nicht alle Branchen im gleichen Masse erreicht und Unternehmen müssen davon ausgehen, dass diese Umwälzungen uns noch viele Jahrzehnte lang beschäftigen werden.

Die Digitalisierung fordert agile Kommunikation

Dieser anhaltende und trotzdem schnelle Prozess ist dabei nicht nur schwer zu erfassen und zu verstehen, sondern bringt tiefgreifende Veränderungen mit sich, die nicht zu Unrecht als revolutionär bezeichnet werden können. Dabei ist Digitalisierung nicht nur „irgendwas mit Internet“, sondern verändert fundamental unsere gesamtgesellschaftliche Vernetzungssituation und unsere Kommunikationsstrukturen. Shitstorms, einflussreiche Blogger und mächtige Onlineportale sind dabei lediglich die Spitze eines riesigen Eisbergs. So wie beim Aufkommen des Telefons nicht einfach ein Anruf zu einem gesprochenen Brief wurde, ist auch eine Social-Media-Kommunikation nicht einfach eine neue Form der klassischen Pressemitteilung. Eine Unterscheidung zwischen „virtuell“ und „real“ wird zunehmend bedeutungslos.

Dabei gehen die Auswirkungen der neuen Kommunikationsprozesse, Erwartungshaltungen und Vorstellungen weit über den Businesskontext hinaus. Das macht sie für Unternehmen umso bedeutsamer. Auch wenn der Einfluss der Digitalisierung in manchen Branchen noch wenig präsent sein mag, dringt er bereits über veränderte Kundenansprüche, neue Geschäftsmodelle aber auch bisher unbekannte Mitarbeiterforderungen in alle Unternehmen. Die Frage ist deshalb nicht, ob die Digitalisierung für Unternehmen relevant wird, sondern wann Anpassungen unausweichlich werden und wie sie geschehen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Absolute Kundenorientiertung als wichtiges Grundprinzip

Weil wir uns mitten in einem langen Veränderungsprozess befinden, deren Ausgang und Umwälzungen nicht abgeschätzt werden können, ist Agilität ein so dringend voranzutreibendes Thema in Unternehmen. Tatsächlich verbergen sich hinter diesem Begriff jedoch schwer fassbare Konzepte, die jedes Unternehmen für sich experimentell erst entwickeln muss. Man kann Agilität deshalb als ein Set von Haltungen und Grundprinzipien verstehen, bei denen

  • experimentelles Testen mit Ergebnisoffenheit
  • hohe Geschwindigkeit bei maximaler Flexibilität und
  • absolute Kundenorientierung

die Kernmerkmale bilden.

Dabei sollten Unternehmen nicht den Fehler machen anzunehmen, dass die Kunden um ihre eigenen Bedürfnisse wüssten, sondern proaktiv Lösungen anbieten. Welcher Kaffeetrinker hätte wohl vor dem Erfolg von Nespresso bei einer Umfrage angegeben, knapp 60 CHF für ein Pfund Kaffee zu bezahlen, wenn er in bunten Aluförmchen steckt und George Clooney vom Werbeplakat lächelt? So verkauft Nespresso in Wirklichkeit keinen Kaffee, sondern bedient das Bedürfnis nach Exklusivität und Apple verkauft im Grunde den Wunsch, den status-quo zu verschieben und neue Standards zu setzen. Beide Unternehmen sind dabei gute Beispiele dafür, dass der richtige Weg zum Kunden erst langwierig und mit Fehlschlägen gesucht und gefunden werden muss.
 

Partielle Agilität ist mit Vorsicht zu geniessen

Irreführend – wenn auch verständlich – ist die häufig von Unternehmern auftauchende Frage, welchen konkreten Nutzen Agilität dem eigenen Unternehmen bringt. Tatsächlich handelt es sich bei der Agilität jedoch um eine Antwort auf die Herausforderungen der Digitalisierung und es steht jedem Unternehmen frei, hier alternative und abweichende Lösungen zu finden, die den komplexen Anforderungen ebenso Rechnung tragen. Im Augenblick ist hier wenig in Sicht.

Existenziell gefährlich ist hingegen die von KPMG propagierte Annahme, dass sich Agilität im Unternehmen in einer Art Vier-Punkte-Plan umsetzen liesse und sich agile Pilotprojekte und Experimente gewissermassen zum „Reinschnuppern“ eignen würden. Forschungen im MSc Business Administration an der FFHS haben gezeigt, dass Unternehmen, die einzelne Abteilungen testweise agil haben arbeiten lassen, vor grossen Herausforderungen standen. Noch ist unklar, ob agiles Arbeiten besser schrittweise oder von Anfang an unternehmensübergreifend eingeführt werden sollte, doch bereits jetzt lassen sich Probleme bei einer partiellen Agilität im Unternehmen erkennen.
 

Agilität lässt einen nicht mehr los

Zunächst möchten viele Mitarbeiter, die in einer Testphase kreativ, ergebnisoffen und autonom an der Lösung von Kundenproblemen gearbeitet haben, im Anschluss oft nicht wieder zurück in alte, bürokratische Unternehmensstrukturen. Wer die agile Arbeitsweise erlebt hat, möchte eher nicht zurück in starre Prozesse, was in Unternehmen zu Kündigungen und damit einem Know-How-Verlust führen kann. Der Weg hin zur Agilität ist für viele Unternehmen deshalb ein Weg ohne Rückfahrticket.

Weitere Probleme ergeben sich, wenn Unternehmen mit der Umsetzung agiler Arbeitsweisen in Teilbereichen wie Projektteams oder Abteilungen erfolgreich sind. Durch Methoden wie dem Design Thinking oder Scrum ist es möglich, in kürzester Zeit Produkte zur Marktreife zu entwickeln. In einem Softwareunternehmen sprachen die IT-Entwickler von 48 Stunden für ein neues Produkt. Diese Geschwindigkeit wird nun ausgebremst von anderen Abteilungen, die nicht agil arbeiten und bürokratische Prozesse haben, selbst ausgelastet sind und mit dem Tempo der Kollegen schlicht nicht mithalten können. Hier kommt es dann zu Frustrationen und Verständnisschwierigkeiten.
 

Ein agiles Mindset reduziert Kommunikationsbrüche

Andererseits ist es oft gar nicht möglich, ein ganzes Unternehmen agil arbeiten zu lassen – was in einer IT-Abteilung funktioniert, stösst im HR-Management oder auf Direktionsebene möglicherweise an seine Grenzen. So werden im Unternehmen Schnittstellen geschaffen, die zu Spaltungen führen. Eine Möglichkeit diese Probleme zu verhindern, ist eine Unterscheidung in Agile Doing und Agile Thinking. Die Swisscom verlangt beispielsweise von allen Mitarbeitern und Abteilungen, dass agile Prinzipien das Denken und die eigenen Einstellungen leiten. Hier implementiert man also eine agile Unternehmenskultur, von der man weiss, dass sie nicht in allen Abteilungen des Unternehmens auch praktisch umgesetzt werden kann. Aber auch wer nicht agil arbeitet, soll ein agiles mindset verinnerlicht haben und damit Brüche zu anderen Abteilungen vermeiden.
 

Die Reise hin zu Agilität hat keine Endstation

Was bisher alle Unternehmen, mit denen die FFHS zusammengearbeitet hat und die sich auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen hin zur Agilität befunden haben – von vielen Jahren bis hin zu ersten Machbarkeitsüberlegungen – gemeinsam hatten war, dass kein einziges Unternehmen angab, der Prozess wäre abgeschlossen. Unternehmen müssen sich darauf einstellen, dass Agilität ein fortlaufender Entwicklungs- und Änderungsprozess ist, ein ständiges Lernen und Ausprobieren und ein stetiges Verbessern. Fehlschläge sind dabei nicht nur unvermeidbar, sondern auch die einzige Quelle sicherer Information – eben darüber, was nicht funktioniert.

Unternehmen, die den Herausforderungen der Digitalisierung mit agilen Arbeitsweisen begegnen möchten, sollten sich also der Gefahr bewusst sein, dass es funktionieren könnte. Und in diesem Fall ist sehr viel mehr erforderlich als ein 4-Etappen-Plan. Schliesslich geht es um nichts weniger als eine Veränderung des gesamten Unternehmens – von Grund auf.

Hat Ihre Reise bereits begonnen? Teilen Sie mit uns Ihre Erfahrungen mit Agilität – wir sind gespannt welchen Herausforderungen Sie dabei begegneten.

Autorin: Dr. Natascha Hebestreit, Dozentin im MSc Business Administration und Fachbereichsleiterin Innovation Management