20.06.2022

Ein Semester in Lille

Tobias Gwerder ist 44 Jahre alt, Familienvater, und arbeitet als Controller bei der Zürcher Hochschule der Künste. Nach der HF absolviert er ein verkürztes Bachelorstudium und hat im Rahmen des FFHS-Studiums ein Semester an der Universität Lille besucht. Wieder in der Schweiz, blickt er auf eine lehrreiche Zeit zurück.

Herr Gwerder, wie sind Sie darauf gekommen, ein Mobilitätssemester in Lille zu absolvieren?
Ich hatte schon seit Längerem das Bedürfnis, eine Zeit lang im Ausland zu verbringen. Dazu braucht es einerseits einen guten Grund und andererseits auch die passende Gelegenheit. Zuerst hatte ich die Idee, den Master im Ausland zu absolvieren, bin dann aber auf das Angebot der FFHS (Anm. der Red.: Angebot Studierendenmobilität) gestossen und fand diese Möglichkeit spannend. Ich habe mit allen Personen gesprochen, die es betroffen hat, mit meiner Frau zuerst, dann mit meinem Vorgesetzten, mit dem Studiengangsleiter, Bora Altuncevahir, und mit der Mobilitätskoordinatorin Anja Bouron. Als überraschenderweise alle zugesagt haben, nutzte ich diese Gelegenheit.

Wie haben Sie sich denn organisiert, mit Job und Familie?
Beim Job konnte ich von 80 auf 50 % Arbeit reduzieren und remote arbeiten. Eigentlich arbeite ich seit zwei Jahren mehr oder weniger remote. Insofern hatte sich dies überhaupt erst angeboten. Vor zwei Jahren wäre ich nicht auf die Idee gekommen, überhaupt anzufragen, ob dies möglich wäre. Mein Arbeitgeber war sehr flexibel und ich konnte die Arbeitstage nach dem Studium ausrichten.

In der Familie hat mich meine Frau von Anfang an unterstützt. Da meine Kinder bereits relativ gross sind, 16 und 17, konnten wir uns darauf einstellen, dass ich für 5 Monate abwesend bin.

Konnten Sie an der Universität in Lille gleich wie an der FFHS  auch Teilzeit studieren?
Ja, ich konnte ein 50%-Studium absolvieren in Lille. Der Vorteil war, dass für Austauschstudierende keine Mindestcredits vorgeschrieben waren und somit die FFHS die Anzahl Credits vorgegeben hat. Ich musste 15 bzw. 20 Credits absolvieren, 5 davon betrafen ein Modul der FFHS, das ich remote weiterführte. Die restlichen Kurse konnte ich ziemlich frei wählen. Die Universität Lille erlaubte mir, alle Kurse an der eingeschriebenen Fakultät zu besuchen, egal ob Bachelor- oder Masterkurse.

Das klingt sehr flexibel. Welche Vorgaben kamen seitens FFHS?
Der Studiengangsleiter gab sehr niederschwellige Vorgaben. Natürlich wäre etwa chinesische Kunstgeschichte im Betriebsökonomiestudium nicht angerechnet worden, aber ich habe meine Wahl an meiner Vertiefung «Leadership and Sustainability Management» ausgerichtet und danach mit Bora besprochen. Dann musste ich ein sogenanntes Learning Agreement ausfüllen, ein Abkommen zwischen mir und den beiden Partnerschulen, das bestätigte, welche Kurse ich besuchte und dass diese an mein Studium an der FFHS angerechnet werden.

Gab es Herausforderungen im Studium?
Dadurch, dass ich in der Wahl meiner Kurse so frei war, war es eine organisatorische Herausforderung, mir den Stundenplan passend zusammenzustellen, sodass es keine Überschneidungen gab. Damit habe ich anfangs viel Zeit aufgewendet, da es beispielsweise zu den Kursen auch Tutorials gab, die in verschiedenen Gruppen stattfanden und die man nicht einfach so wechseln konnte.

Auch administrativ gab es einige Hürden. Zum Beispiel habe ich die offizielle Bestätigung, dass ich aufgenommen wurde, erst Mitte Dezember erhalten (das Studium begann am 3. Januar). So konnte ich lange keine Unterkunft buchen, weil ich nicht wusste, ob ich zugelassen bin.

Wo sehen Sie Unterschiede zwischen den beiden Hochschulen?
Die Universität in Lille war eine reguläre Uni mit einem jüngeren Klientel als die FFHS. Das heisst, die meisten Studierenden sind direkt nach der Matura ins Studium eingestiegen und hatten dementsprechend noch keine Berufserfahrung. Dies war auch im Unterricht spürbar. Es wurde mehr theoretisches Basiswissen vermittelt, das an der FFHS bereits vorausgesetzt wird. Allerdings gehöre ich mit 44 auch an der FFHS eher zu den älteren Studierenden und merke, dass ich durch meine Berufserfahrung und diverse Weiterbildungen viel Vorwissen mitbringe und dadurch sicher weniger Zeit ins Selbststudium investieren muss als jüngere Studierende.

Welche Erfahrungen nehmen Sie mit?
Ich habe vor allem in der ersten Zeit meine Familie sehr vermisst, das hatte ich etwas unterschätzt. Da war ich eine Weile etwas frustriert, weil ich das, was mir am wichtigsten war, meine Familie, zuhause gelassen hatte, hingegen meinen Job und mein Studium an der FFHS teilweise mitgenommen hatte. Für mich war es aber ein lehrreicher Prozess, damit umzugehen und als Person zu reifen.

Da ich nicht das Bedürfnis hatte, wie man es vielleicht anfangs 20 hat, das Studentenleben (Ausgang, Partys, etc.) ausgiebig zu geniessen, hatte ich relativ viel Zeit für mich. Nach fast 20 Jahren intensivem Familienleben eine neue Erfahrung. Dadurch habe ich mich selber wieder besser kennengelernt und erkannt, was mir wirklich wichtig ist. Dies empfinde ich als wertvolle Erfahrung.

Würden Sie einen Austausch weiterempfehlen?
Ich würde dies auf jeden Fall empfehlen! Man muss herausfinden, welches Setting am besten in die jeweilige Situation passt und verschiedene Aspekte berücksichtigen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, je nachdem kann es sinnvoll sein, einen unbezahlten Urlaub zu nehmen, um komplett in ein anderes Leben einzutauchen. Wenn man bereit ist, sich auf etwas Neues einzulassen, kann man viel dazu lernen.